Muriel Chemin hat sich in ihrem Musikerleben intensiv mit der Musik Ludwig van Beethovens befasst. Die in Frankreich geborene Pianistin setzt nun ihre Veröffentlichung der Beethoven-Diabelli-Variationen aus dem Jahr 2017 mit nicht weniger als einem vollständigen Zyklus der 32 Klaviersonaten des Komponisten fort, die beim Label Odradek erschienen sind.
<p>Als einer der berühmtesten Komponisten der Musikgeschichte hat Ludwig van Beethoven ein unvergleichliches Erbe hinterlassen. Seine Sammlung von 32 Klaviersonaten ist ein wesentlicher Bestandteil davon. Diese Sonaten sind nicht nur Meisterwerke der Klaviermusik, sondern auch ein Spiegelbild von Beethovens Leben und seiner musikalischen Entwicklung. Ludwig van Beethoven war ein Pionier, seine Werke haben einen enormen Einfluss auf die Musikwelt bis heute. Seine ersten Sonaten entstanden im frühen 19. Jahrhundert. Die Werke sind in drei Perioden unterteilt: die frühen Sonaten, die mittleren Sonaten und die späten Sonaten.
Die frühen Sonaten von Beethoven zeichnen sich durch eine klassische Form und Struktur aus, die von Mozart und Haydn inspiriert sind. Diese Sonaten sind in der Regel kurz und haben eine klare melodische Linie. Die ersten drei Sonaten von Beethoven, Op. 2, Nr. 1-3, wurden im Alter von 27 Jahren veröffentlicht und sind ein gutes Beispiel für diese frühe Periode von Beethovens Klaviermusik.
Die erste Sonate, Op. 2, Nr. 1, beginnt mit einem schnellen und energischen Allegro, gefolgt von einem langsamen Adagio und einem fröhlichen Scherzo. Der letzte Satz, ein Rondo, ist ein lebhaftes und forderndes Stück, das Beethovens Technik und Fähigkeiten am Klavier unterstreicht. Die erste Sonate spielt Chemin geradlinig und mit klarer Reinheit. Das Adagio erfährt in ihrem tadellosen Spiel genügend Ausdruck und weiten Raum zur Entfaltung. Das Allegretto klingt leichtfüßig und wird mit dem schön ausgeführten Trio klug kontrastiert. Das beschließende Rondo gefällt in seiner betont präzisen Artikulation.
Die zweite Sonate, Op. 2, Nr. 2, ist eine weitere klassische Sonate mit einem schnellen Allegro, einem langsamen Largo und einem virtuosen Scherzo. Der letzte Satz, ein Allegro assai, ist ein schnelles und aufregendes Stück, das eine unglaubliche Fertigkeit am Klavier erfordert. Für Chemin ist dies kein Problem, sie stellt sich ganz in den Dienst der Komposition und vermeidet dabei Extreme im Vortrag. Ihr Spiel offenbart schöne Details und ist in den Tempi ausgewogen.
Die dritte Sonate, Op. 2, Nr. 3, ist die längste und anspruchsvollste der drei frühen Sonaten. Sie beginnt mit einem intensiven Allegro con brio, gefolgt von einem langsamen und lyrischen Adagio. Der Scherzo ist schnell und spielerisch, während der letzte Satz, ein Allegro assai, eine beeindruckende Technik und Virtuosität erfordert. In Chemins Spiel tritt nun deutlicher die Freude am spielerischen Humor hinzu. Mit leichter Hand und deutlicher Betonung des Rhythmus geleitet sie den Zuhörer kurzweilig und anregend durch das Werk.
In Beethovens mittleren Sonaten sind die klassischen Strukturen und Formen komplexer und die Musik wird expressiver und emotionaler. Diese Sonaten sind oft länger und haben eine breitere Palette an Emotionen. Drei der bekanntesten mittleren Sonaten sind Op. 13, Op. 27 und Op. 31.
Op. 13, auch bekannt als „Pathétique“, ist eine der bekanntesten Sonaten von Beethoven und zeigt schon in ihrem Titel die emotionalere Seite von Beethovens Musik. Der erste Satz, ein schnelles Grave, ertönt dunkel und dramatisch, gefolgt von einem langsamen Adagio und einem virtuosen Rondo. Mit Wucht und Düsternis eröffnet Chemin dieses besonders bekannte Werk. Im Allegroteil dominiert die Unruhe, ohne in Hast oder Hektik zu geraten. Das Adagio ist bei Chemin, wie gefordert, ein echtes gesungenes Lied ohne Worte. Ein poetisches Gedicht, sensibel auf den Tasten geradezu hingehaucht. Spritzig und mit viel Vorwärtsdrang folgt das beschließende Rondo. Insgesamt überzeugt ihr hohes Stilempfinden und die Treffsicherheit in der Wahl ihrer Tempi.
Op. 27, bekannt als „Mondschein-Sonate“, ist eine weitere berühmte Sonate von Beethoven. Der erste Satz, ein langsames Adagio sostenuto, ist berühmt für seine lyrische Melodie und seinen sanften Klang. Der zweite Satz, ein schnelles Allegretto, ist kurz und lebhaft, während der dritte Satz, ein schnelles Presto agitato, eine große Technik und höchste Souveränität am Klavier erfordert. Sehr bewusst und im Duktus getragen, beginnt Chemin den ersten Satz. Mit größter Selbstverständlichkeit variiert sie Tempo und Phrasierung. Und auch hier ist wieder eindrücklich ihr deutliches Espressivo ein prägender Faktor ihres Spiels. Im Kontrast dazu, weiß sie in den schnellen Sätzen kraftvolle Akzente zu setzen.
Op. 31, Nr. 2, ist eine der am wenigsten bekannten mittleren Sonaten von Beethoven, aber dennoch ein Meisterwerk der Klaviermusik. Der erste Satz, ein schnelles Allegro, ist spielerisch und energisch, während der zweite Satz, ein langsameres Adagio, eine melancholische Stimmung hat. Der letzte Satz, ein schnelles Allegretto, ist ein virtuoses und herausforderndes Stück, das Beethovens technische Fertigkeiten am Klavier unterstreicht. Mit viel Schwung und Elan artikuliert Chemin die schnellen Sätze, ohne sich in Bedrängnis zu bringen. Ein tief empfundener Ruhepunkt gelingt ihr mit dem berührenden Adagio.
<Die späten Sonaten von Beethoven sind die komplexesten, emotionalsten und persönlichsten seiner Werke. Diese Sonaten sind oft länger und haben eine breitere Palette an Emotionen und Stimmungen. Drei der bekanntesten späten Sonaten sind Op. 101, Op. 106 und Op. 109.</p>
Op. 101 ist eine Sonate, die Beethoven im Alter von 50 Jahren schrieb. Der erste Satz, ein schnelles Allegro, ist energisch und spielerisch, während der zweite Satz, ein langsames Andante, eine melancholische Stimmung hat. Der dritte Satz, ein schnelles Scherzo, ist lebhaft und virtuos, während der letzte Satz, ein langsames Adagio, eine sanfte und beruhigende Stimmung hat. Muriel Chemin wählt ein gemessenes Tempo, was ihrer klaren Artikulation sehr zugutekommt. So wirken Akzente geschärft und können ausreichend nachklingen.
Op. 106, auch bekannt als „Hammerklavier-Sonate“, ist eine der längsten und schwierigsten Sonaten von Beethoven. Der erste Satz, ein schnelles Allegro, ist virtuos und fordernd, während der zweite Satz, ein langsameres Scherzo, eine düstere und dramatische Stimmung hat. Der dritte Satz, ein langsames Adagio, ist emotional und lyrisch, während der letzte Satz, ein schnelles Allegro, eine unglaubliche Technik und Fertigkeit am Klavier erfordert. Chemin lässt sich nicht von dem Umfang der Komposition beeindrucken. Mit großer Konzentration geleitet sie den Zuhörer durch intensive fünfzig Minuten ihres besonderen Klavierspiels. Das einleitende Allegro erklingt groß, geradezu orchestral. Dies setzt sich dann auch im folgenden Scherzo fort. Höhepunkt ist bei Chemin das intensiv gespielte Adagio, welches mit viel Innenspannung und Farbreichtum seinen Zauber entfaltet. Die komplexe Fuge im Finale wird im Tempo etwas reduziert und offenbart die immensen Anforderungen, die von Muriel Chemin gut gemeistert werden.
Op. 109 ist eine der berühmtesten späten Sonaten von Beethoven. Der erste Satz, ein langsames Adagio, ist lyrisch und sanft, während der zweite Satz, ein schnelles Prestissimo, virtuos und fordernd ist. Der letzte Satz, ein langsames Adagio, ist ein beruhigendes und sanftes Stück, das Beethovens Fertigkeit am Klavier und seine emotionale Tiefe unterstreicht. Besonders dieser Vortrag Chemins gelang vortrefflich, weil sie der Ruhe des Adagios tief vertraut und in die Klangräume Beethovens weit hineingelangt.
Eines der bemerkenswertesten Merkmale von Beethovens Sonaten ist die Kombination aus klassischen Formen und Strukturen mit einer expressiven und emotionalen Sprache. Beethoven war ein Meister darin, komplexe Harmonien und Rhythmen zu schreiben, die gleichzeitig innovativ und zugänglich sind. Wie wunderbar gelang es ihm, ein Thema in verschiedenen Variationen und Stilen zu präsentieren, was zur Einheitlichkeit in seinen Werken führte. Schließlich ist es wichtig, die Bedeutung von Beethovens Klaviermusik im Kontext seiner Zeit zu betrachten. Beethoven war einer der ersten Komponisten, die die Klaviermusik als eine Kunstform betrachteten, die nicht nur zur Unterhaltung, sondern auch zur tiefgründigen Emotion und Reflexion dienen konnte. Seine Sonaten waren ein wesentlicher Bestandteil dieser Entwicklung und setzten den Standard für die Klaviermusik, die bis heute fortbesteht.
Das künstlerische Ergebnis von Muriel Chemins Gesamteinspielung der Beethoven Sonaten ist überaus beeindruckend. Ihr musikalischer Weg durch die Sonaten ist erkennbar individuell und keine Kopie ihrer Kollegen am Flügel. Sie lässt die Musik wohltuend atmen und gibt ihr individuelle Gestalt. Vor allem Chemins starkes Gespür für den Rhythmus und die kompositorische Struktur prägen ihren Vortrag. Stilsicher und mit viel Esprit gestaltet sie die Übergänge, sodass die Musik sich in einem ganz natürlichen Fluss entfaltet. Chemins Interpretation der Musik ist sehr klar und präzise, zugleich auch emotional und expressiv. Es macht sehr viel Freude, ihrer schöpferischen Wandlungsfähigkeit zu lauschen. Sensibel und genau in der Artikulation werden bei ihr die langsamen Sätze zu besonderen Momenten pianistischen Gesanges. Darüber hinaus scheut sie aber auch nicht die schroffe Geste oder den musikalischen Witz. Ihre Technik und Fertigkeit am Klavier sind beeindruckend. Sie versteht es, die Musik in einer Art und Weise zu interpretieren, die sowohl dem klassischen Stil als auch dem romantischen Geist von Beethovens Musik gerecht wird. Chemin spielt die Sonaten immer formbewusst und vermeidet jede stillose Übertreibung. In dem immens engagierten Vortrag gelangen ausdrucksstarke Zeugnisse einer Künstlerin, deren Passion für den Komponisten jederzeit spürbar ist.
Muriel Chemins Aufnahme ist ein hervorragendes Beispiel für die Schönheit und Tiefe von Beethovens Sonaten, und ein Beweis für das bleibende, wertvolle Erbe, das er der Musikwelt hinterlassen hat. Odradek hat diese Aufnahme meisterlich aufgezeichnet. Das Klangbild des Steinway Flügels ist warm und transparent zugleich. Vorbildlich ist das informative Beiheft der Edition, welches die Werke eingehend beschreibt und durch persönliche Anmerkungen der Künstlerin ergänzt wird.
Es gibt viele Gesamteinspielungen der Beethoven Klaviersonaten. Muriel Chemin gelingt ein besonderes Ergebnis: im Mittelpunkt steht bei ihr der Komponist, ohne dass die Interpretin hinter dem Giganten Beethoven verschwindet. Chapeau!
Dirk Schauß, 22. April 2023
Ludwig van Beethoven
Complete Piano Sonatas
Muriel Chemin, Klavier
Odradek, ODRCD361