CD: „Carl Nielsen“, alle Sinfonien unter Fabio Luisi

Carl Nielsen, Dänemarks bekanntester Symphoniker des 20. Jahrhunderts führt immer noch ein Schattendasein. Seine innovativen symphonischen Werke sind nur hin und wieder im Konzertsaal zu erleben. Von daher ist jede Neueinspielung dieser faszinierenden Musik eine willkommene Bereicherung. Nun erscheint dieser Tage bei der Deutschen Grammophon eine Gesamtaufnahme aller Sinfonien mit dem Danish National Symphony Orchestra (DNSO) und seinem Chef-Dirigenten Fabio Luisi. Die Aufnahmen zeigen, wie sehr das dänische Orchester in der Musik Nielsens beheimatet ist, wodurch der Hörer die spannende Entwicklung der Kompositionen überzeugend miterleben kann. Die Qualität der Aufnahmen ist insgesamt sehr gut.

Die Sinfonien von Carl Nielsen sind innovative und kraftvolle Werke, die die Ideen des Komponisten auf einzigartige und eindringliche Weise vermitteln. Jede Sinfonie hat ihre eigene musikalische Sprache und Stimmung, die von Luisi und dem DNSO in dieser Sammlung sehr gut gespielt werden. Die Kompositionen sind eine Mischung aus romantischen und modernen Elementen, die zu einem einzigartigen und beeindruckenden musikalischen Erlebnis führen. Alle sechs Sinfonien sind unzweifelhaft meisterlich geraten und sie entfalten eine große Sogwirkung. Immer ist zu spüren, dass Carl Nielsen seine Musik auf einen kulminierenden Schlusspunkt führt.

Sinfonie Nr. 1

Die Melodien dieser frühen Sinfonie haben eine unverwechselbare Eigenart und klingen bereits schon typisch nach Carl Nielsen. Mit gerade siebenundzwanzig Jahren schrieb Nielsen seinen symphonischen Erstling. Harmonisch sehr kontrastierend beginnt das Werk im wuchtig düsterem g-moll, um im finalen hellen C-Dur zum Abschluss zu gelangen. Sehr transparent umspielen sich Holzbläser und Streicher. Wie aus dem Nichts beginnen die Streicher ein sehnsuchtsvolles Andante anzustimmen. Liedhaft entwickeln sich die Themen und die Musik gerät in einen unwiderstehlichen Fluss, welcher den Zuhörer im dritten Satz zu packenden Höhepunkten führt. Mit großer Kraft und Bestimmtheit wird diese Sinfonie zu beeindruckender Schlusswirkung gebracht.

Fabio Luisi und das DNSO spielen die Sinfonie mit entschiedener Dynamik und Emotion, so dass hier ein sehr kurzweiliger Vortrag gelungen ist. Im lichten Klangbild wird dieses herrliche Werk ausgezeichnet durchleuchtet und hinreißend gespielt.

Sinfonie Nr. 2 – „Die vier Temperamente“

Die zweite Sinfonie von Carl Nielsen, auch bekannt als „Die vier Temperamente“, ist eine Fortsetzung der Idee der ersten Sinfonie und stellt die menschlichen Charaktereigenschaften dar.  Die Bezeichnungen der vier Sätze entsprechen den Temperamenten: Choleriker, Phlegmatiker, Melancholiker und Sanguiniker. Nielsen legte Wert darauf, dass dieses Werk keine Programmmusik ist, sondern eine Sammlung unterschiedlicher Gemütszustände aufzeigt.

Fabio Luisi arbeitet mit dem spielfreudigen Orchester die verschiedenen Stimmungen und Charaktere der Sätze sehr gut aus und vermittelt die musikalische Botschaft von Carl Nielsen in den Charakterbildern sehr gekonnt. Das DNSO kennt seine Musik sehr genau und hat sie oft eingespielt, daher ist auch hier ein mustergültiger Vortrag gelungen.

Sinfonie Nr. 3 – „Sinfonia espansiva“

Die dritte Sinfonie von Carl Nielsen, auch bekannt als „Expansive Sinfonie“, ist eine eindringliche und kraftvolle Komposition. Sie beginnt mit einem markanten ruppigen Allegro und zeigt darin viele Kontraste. Der zweite Satz der Sinfonie ist ein langsamer und lyrischer Satz, der an die romantischen Sinfonien des 19. Jahrhunderts erinnert. Dieser Satz hat bezaubernde Wirkung in seiner Naturidylle und den plötzlich in der Ferne einsetzenden Vokalisen. Märchenhaft bewegt sich die Gruppe der Streicher auf und ab, ein wenig an Debussy’s „Pélleas et Mélisande“ erinnernd. Diese Stimmung wird nun etwas bewegter im folgenden Allegretto weiter entwickelt. Mit einem herrlich hymnischen Thema beginnt das packende Finale. Und spätestens hier stellt sich wiederholt die Frage: warum wird diese Musik so selten im Konzertbetrieb gespielt?

Wandlungsfähig zeigt sich einmal mehr das einfühlsam spielende DNSO. Fabio Luisi gestaltet diese Sinfonie mit großer Sensibilität. Genau hört er in die Harmonieverläufe hinein und arbeitet präzise faszinierende Farben heraus. Das DNSO fasziniert mit vorbildlicher Klangkultur und vor allem exquisiten Beiträgen in den Bläserstimmen.

Sinfonie Nr. 4 – „Die Unauslöschliche“

Die vierte Sinfonie von Carl Nielsen, auch bekannt als „Die Unauslöschliche“, ist eine der bekanntesten Sinfonien des Komponisten. Sie ist eine immens kraftvolle und energiegeladene Komposition, die die Idee der Unauslöschlichkeit durch die Musik vermittelt. Die Sinfonie beginnt mit einem schnellen Satz, der mit großer Substanz das Geschehen umreißt. Die Holzbläser sorgen dann für angenehme Beruhigung im zweiten Satz. In hoher Lage intonieren die Streicher ihren Gesang im dritten Satz, immer wieder von heftigen Einwürfen der Pauke gestört. Im energischen Finale kommt es zu einer Einzigartigkeit in der Musikgeschichte: zu einem Duell zweier Paukenspieler.  Furios und aufbrausend zugleich erfährt das Werk somit ein prägnantes Ende.

Fabio Luisi ist bei dieser Sinfonie ganz besonders hörbar in seinem Element. Mit großer Dynamik und Energie motiviert er sein Orchester zu einem sehr farbintensiven Vortrag, was zu einer sehr beeindruckenden musikalischen Erfahrung führt. Das DNSO verwöhnt mit edlen Klangfarben und spielerischer Virtuosität.

Sinfonie Nr. 5

Die fünfte Sinfonie von Carl Nielsen zählt zu den häufiger gespielten Werken des Komponisten. Sie ist eine eindringliche und kraftvolle Komposition, die die Idee des Konflikts und der Versöhnung durch die Musik vermittelt. Die Sinfonie beginnt mit einem Ostinato in den Streichern über das musikalische Fragen und Antworten der Bläserstimmen gelegt sind. Im Adagio gibt es einmal mehr berückende Momente in den Holzbläsern, während im beschließenden Allegro wieder die Kontraste dominieren. Insgesamt betrachtet tönt diese Sinfonie am modernsten und mutet dem Zuhörer so manche Dissonanz zu. Komplexe Melodik und häufige Wechsel im Rhythmus geben dem Werk einen kühnen Ausdruck.

In dieser Sinfonie spielt das DNSO lustvoll auf und bleibt auch in den schwierigsten Verästelungen jederzeit souverän. Fabio Luisi gestaltet diese Musik ohne Fremdelei, so als würde er sie sein ganzes Leben bereits dirigiert haben. Sein Dirigat ist klar in der Ausgestaltung der Strukturen und mitreißend in den Höhepunkten.

Sinfonie Nr. 6 – „Sinfonia semplice“

Die sechste Sinfonie von Carl Nielsen, auch bekannt als „Einfache Sinfonie“, ist eine leichte und beschwingte Komposition. Sie ist die letzte Sinfonie des Komponisten, im Jahr 1925 uraufgeführt und unterscheidet sich von den vorherigen Sinfonien in ihrer Leichtigkeit und Unbeschwertheit. Sehr originell setzt Nielsen das Schlagzeug ein, so dass die Humoreske des zweiten Satzes wirklich nicht frei von Komik ist. Ein großer Kontrast folgt sodann mit dem melancholischen dritten Satz, der vornehmlich von den Streichern getragen wird. Der Schluss ist eine innovativ geschriebene Abfolge unterschiedlicher Variationen, die Nielsen dann in einen ironischen Walzer münden lässt. Urplötzlich marschiert das Schlagzeug auf und stellt sich grotesk in den Mittelpunkt. Herrlich. Mit einer Fanfare und schnellen Streicherbewegungen stürmt das volle Orchester in den Schluss.

Auch hier gelang dem DNSO ein hervorragender Vortrag. Ausgewogen im Klangbild und mit hörbarem Engagement setzt der Klangkörper einen markanten Schlusspunkt in der Würdigung des Komponisten. Fabio Luisi dirigiert mit großer Leichtigkeit und empfundener Freude, was dem Werkcharakter sehr zuträglich ist.

Insgesamt ist diese CD-Sammlung von Carl Nielsen-Sinfonien eine hervorragende Wahl für jeden Liebhaber klassischer Musik. Die Werke sind innovativ und kraftvoll und werden von Fabio Luisi und dem Danish National Symphony Orchestra in dieser Einspielung sehr gut gespielt. Luisi hat sich in seinen Dirigaten deutlich weiter entwickelt. Wirkte er in der Vergangenheit zuweilen hektisch und oberflächlich, so atmen diese Einspielungen eine souveräne Ruhe in der Gestaltung, die Lust auf mehr macht. Die Aufnahmequalität ist ausgezeichnet und wird durch ein gut editiertes Beiheft ergänzt.

Dirk Schauß, 21.April 2023


Carl Nielsen

The Symphonies

Danish National Symphony Orchestra

Fabio Luisi, Leitung

Deutsche Grammophon, 486 3471