Les enchantements les plus doux / Sont les plus redoutables – „Die süßesten Zauber sind die gefährlichsten“, singen die beiden Ritter, bevor sie von den Schemen ihrer Geliebten (in Wahrheit sind’s Dämonen) verführt werden.
Die süßesten Zauber… Die Neuaufnahme von Jean-Baptiste Lullys „Armide“ birgt jede Menge dieser Zauberkräfte, und dies nicht allein deshalb, weil Armide eine glutvolle Magicienne ist. Lullys „Tragédie en musique“, komponiert auf einen Text des großen Philippe Quinault, war nun nicht nur die letzte Oper des eigentlichen Erfinders der Gattung „Französische Oper“, sondern – Stichwort: Zauber – auch ein Höhepunkt seiner spezifischen Musikdramaturgie. Mehr noch als in seinen anderen guten Bühnenwerken gelang es dem Musiker, zusammen mit seinem kongenialen Librettisten ein veritables Musikdrama auf die Bühne zu bringen, das auch heute noch zu wirken vermag – vorausgesetzt, es sind Könner am Werk, die die Kluft zwischen dem französischen Absolutismus von 1668 und der Gefühlskultur von 2024 zum Verschwinden bringen. Natürlich: Auch in der „Armide“ ist es der (höfische) Tanz, sind es die Entrées, Airs und Gavottes, der über weite Strecken die Musikdramaturgie beherrschen, doch machte sich Lully den danse royale so zu eigen, dass er zum integralen Bestandteil der Handlung wurde, so dass noch die in Moll getauchte, aus nicht weniger als 76 Couplets bestehende Passacaille des Schlussakts (Herbert Schneider nennt sie „eines der vollendetsten Ostinatostücke Lullys“) allen Dekor verloren hat. Von „Handlung“ kann, das ist die Hauptsache, tatsächlich gesprochen werden. Die Geschichte der Verfallenheit der heidnischen Zauberin, die sich die Verachtung des feindlichen Mannes vornimmt und am Ende in den Fallstricken ihrer Liebe zum christlichen Ritter landet, diese Geschichte einer amour passion ist das „Seelendrama einer Liebenden“ (Ulrich Schreiber), das relativ zügig und packend erzählt wird. Es nimmt, nach dem im 2. Akt platzierten Monolog der Titelheldin, der Operngeschichte schrieb, im 3. Akt merklich Fahrt auf, um im 5. Akt in der Konfrontation von sinnlich-schöner Scheinwelt und den Forderungen von „Vernunft“, „Pflicht“ und Ruhm“ an den politischen Forderungen einer Gegenwelt zu zerbrechen, die in Ludwig XIV. ihr Zentrum hatte. Ironie der Geschichte: Obwohl der König die Oper bei „seinem“ Opernkomponisten bestellt hatte, besuchte er, aus verschiedenen Gründen, niemals eine Aufführung des Werks. Er bekam also nicht direkt mit, was für ein Coup Monsieur Lully hier gelungen war.
Der schnell einsetzende Erfolg blieb der Tragédie lange treu, so dass sich noch Gluck mit seiner ein Jahrhundert jüngeren „Armida“ ideell und materiell auf die französische Oper berufen konnte, nachdem der Buffonistenstreit der 1750er Jahre sich an der Debatte über Armidas Monolog entzündet hatte. Hört man ihn, wenn Stéphanie d’Oustrac „Enfin, il est en ma puissance“ singt, begreift man zunächst freilich kaum, warum das wenn auch bemerkenswerte Stück diese starke Resonanz auslösen konnte: ein Stück, dem Rousseau (ausgerechnet Rousseau, der als eher schlichter Komponist in die Musikgeschichte einging) freilich zu Unrecht und aus politischen Gründen Gleichförmigkeit und Dürftigkeit vorwarf. Oustrac singt die Armide mit Emphase, aber nicht als barocke Donnergöttin. Sie hegt die Partie gleichsam – pointiert ausgedrückt – klassizistisch ein, ohne ihrem zwischen Hass und Liebe, Verzweiflung und Aktion changierendem Charakter etwas an Intensität zu rauben. Es harmoniert trefflich mit Lullys harmonischer „bienséance“, also seiner wenn auch differenzierten Regelhaftigkeit. Sie gestaltet den Vokalpart, indem sie, ganz im Sinne Lullys und Quinaults, den Gesang als Mittel zum Zweck einer musikalischen Tragödie begreift, in der jedes Wort wichtig ist, weil nur so die Emotionen transportiert werden können, die zum Verständnis der auch aus dem Geist der großen französischen Rhetorik geborenen Tragödie nötig sind. Renaud, also der Mann, den sie zunächst fangen und vernichten will, bevor sie – sie weiß nicht wie – sich ihren „unvernünftigen“ Gefühlen ausgesetzt sieht, dieser Renaud wird von Cyril Auvity ansprechend gesungen. Seine zurückhaltend lyrisch gepolte Stimme scheint wie ideal zumal für die Träumereien in einem Paradies, das so künstlich ist, dass es schon wieder authentisch ist. Kein Zufall, dass seine Schlummerarie „Plus j’observe ces lieux“ zu den Höhepunkten der Einspielung gehört. Das dramatische Rezitativ, der Abschied Renauds von Armide, gelingt herzbewegend. Ebenso hinreißend, nur völlig entgegengesetzt: der Auftritt der reichlich lebendigen Allegorie des Hasses, also La Haines. Timothée Varon singt die männliche Furie zusammen mit dem Orchester „La Poème Harmonique“ und dem erstrangigen Chor der Opéra Dijon so vital, dass die Kontraste zur von der liebenden Frau erwünschten, idyllischen Zauberwelt nur umso größer ausfallen. Wie gesagt: ab dem 3. Akt nimmt die Geschichte an Fahrt auf, wozu der Höllenauftritt – und die lieblichen Frauen elementar beitragen, die den Helden und uns so einlullen wie die beiden Dämonen die beiden Ritter, denen sie als Erscheinungen ihrer Geliebten gegenübertreten. Hier tun Marie Perbost und Eva Zaïcik beste Gurgeldienste: im belcantistischen Schönklang des zärtlichsten Barock, in dem die mit Fiorituren versehene Geziertheit und die Zuneigung einswerden. Gleichfalls glänzend, weil stimmlich charakterisierend: die beiden latent witzigen Ritter Ubalde und der dänische Ritter, also Virgele Ancely und David Tricou.
Zum Programm gehörte freilich 1668 auch ein fast monumentaler Prolog von ca. 20 Minuten Länge, in dem die Sängerinnen und Sänger schon einmal, ohne es zu wissen, die Musik selbst besingen, indem sie dem königlichen Herren in Form einer Motette Reverenz erweisen. Was aufs erste Hören wie ein Stück aus dem historischen Museum anmutet, weil dieses Herrscherlob ein typischer Auswuchs eines überspannten Absolutismus war, erweist sich schon schnell als eine meisterhafte Ouvertüre zu einem Drama, in dem es, bei allen ideologischen Vorbehalten, im Kern und insgesamt um die Beziehung zweier Menschen, vor allem aber – der Operntitel stimmt schon, wird auch nicht durch die Besetzung diskreditiert – um die Frau geht. Unter dem Dirigenten Vincent Dumestre dürfen die Vokalisten und das Orchester schon einmal zeigen, wie französischer Hochbarock zu klingen hat: tänzerisch schwungvoll, natürlich mit Flöten, Oboen und Fagotten farbig instrumentiert (jede Aufführung einer Lully-Oper verlangt ja eine besondere Einrichtung des Materials), schneidig interpretiert, tempomäßig ausgeglichen, also weder schleppend noch überhetzt.
So präsentiert die auf einer Live-Aufführung basierende Einspielung von Quinaults und Lullys letztem chef d’oeuvre vom auch kulturhistorisch reizvollen Prolog über die Gegensätze von Paradies und Seelenterror bis zu Armides letztem verzweifeltem Monolog, nach dem nur noch auf ihren Befehl hin die Dämonen ihren Palast zu zerstören haben, eine Sicht auf das Werk, das mit dieser Besetzung von Neuem seine zündende Lebendigkeit bewiesen hat. Sie muss und kann all denen empfohlen werden, die so etwas wie eine Lully-Oper immer noch für „alte“ Musik halten.
PS: Im gedruckten Libretto fehlen leider etliche Textzeilen, vor allem im 3. Akt. Wie gut, dass man den Text (wie die Partitur) auch im Netz mitlesen kann. Ansonsten: Keine Klagen.
Frank Piontek, 29. Oktober 2024
Jean-Baptist Lully und Philippe Quinault: Armide
La Poème Harmonique
Dirigent: Vincent Dumestre
Chateau de Versailles 124