DVD: „Krieg und Frieden“, Sergei S. Prokofiev

Bei dem hauseigenen Label der Bayerischen Staatsoper ist ein im März 2023 entstandener Live-Mitschnitt von Sergei S. Prokofievs Oper Krieg und Frieden auf DVD erschienen. Es ist dem Münchner Nationaltheater hoher Dank dafür auszusprechen, dass es diese bemerkenswerte Produktion nun einem interessierten Publikum auf DVD zugänglich zugemacht hat. Die musikalischen, gesanglichen und szenischen Leistungen fügen sich zu einer Symbiose von enormem Glanz zusammen, die stark unter die Haut geht. Sehr bedauernswert ist indes die Tatsache, dass im zweiten Akt der Rotstift zu stark angesetzt wurde. Insbesondere das Fehlen des Kriegsrat-Bildes mit der herrlichen Arie Kutuzovs mutet schmerzlich an. Das hätte nicht sein müssen. Der Grund für die mannigfaltigen Striche war politischer Natur. Die Politik spielte auch bei der Entstehung dieser beachtlichen Produktion mit. Der Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2023 hätte um ein Haar zu deren Streichung geführt. Dass die Opernleitung sich letztlich aber dennoch entschloss, das Werk im März 2023 auf die Bühne zu bringen, zeugt von großem Mut und Entschlossenheit. Da waren die zahlreichen Striche in der Partitur, die wohl eine Verärgerung Putins verhindern sollten, das mildere Mittel. Jedenfalls möchte man diese nun endlich auf DVD gebannte Aufführung nicht missen. Sie ist einfach genial!

Wie meistens, wenn Dmitri Tcherniakov an deutschen Bühnen Regie führt, handelt es sich dabei um eine hochmoderne Angelegenheit. Er präsentiert das Ganze nicht als opulenten Historienschinken, sondern deutet die Handlung als szenische Parabel auf das moderne Russland. Diesem durchaus logischen Ansatzpunkt ist  zuzustimmen. Der Regisseur, der zudem sein eigener Bühnenbildner ist, verlegt das Geschehen zusammen mit der für die Kostüme zuständigen Elena Zaytseva in ein für Russland zentrales Ambiente: den Säulensaal im Moskauer Haus der Gewerkschaften. Dieses cirka 1775 im klassizistischen Stil errichte Bauwerk diente dem russischen Adel lange Zeit als Versammlungsort, wo auch politische Verlautbarungen und strahlende Feste stattfanden. Später gingen hier Konzerte namhafter russischer Komponisten über die Bühne. Im Ersten Weltkrieg wurde in diesem Gebäude ein Lazarett eingerichtet, auch nutzte man das Haus der Gewerkschaften für Wohltätigkeitsaktionen. Verstorbene Führer des kommunistischen Systems sind hier aufgebahrt worden, zuletzt Gorbatschow. Zudem war dieser Ort Schauplatz der berüchtigten Stalinistischen Schauprozesse sowie der Komponisten-Kongresse, in deren Fänge auch Prokofiev geriet.

Hier haben sich zahlreiche gestrandete Menschen eingefunden. Es handelt sich wohl um Flüchtlinge, die auf Feldbetten und alten Matratzen der Dinge harren, die da kommen. Der Raum bietet ihnen zwar Schutz, andererseits können sie ihm auch nicht entrinnen. Sie sind Gefangene und suchen verzweifelt nach einem Ausweg. Die letztendlich von diesen Leuten gefundene Überlebensstrategie besteht in Rollenspielen, zu denen sie sich die russischen Nationalfarben Weiß – Rot – Blau mit Lippenstiften ins Gesicht schmieren. Aus einem riesigen kollektiven Gedächtnis heraus spielen sie Szenen aus ihrer Erinnerung nach und geraten dabei immer mehr in Rage. Ein Entkommen aus ihrer ausweglosen Situation ist nicht möglich. Aus dem Spiel wird schließlich bitterer Ernst. Ein Kind spielt mit einer Wasserpistole und der Chor nimmt immer bedrohlichere Züge an. Alles das geschieht mit der Legitimation russischer Größen wie Lenin, Stalin, Tschaikowsky, Prokofiev und Schostakowitsch, deren Bilder im zweiten Akt vorgeführt werden. Angebliche Verletzungen werden rasch zu echten Wunden, die immer schlimmer werden, vorgetäuschte Konflikte zu echten Kämpfen, die immer mehr ausarten. Die berühmte Schlacht von Borodino wird von Tcherniakov als patriotisches Schauspiel heutiger Russen interpretiert. Wenn Napoleon hier als gar nicht wie der kleine Korse aussehende Karikatur erscheint und gnadenlos verlacht wird, driftet das Ganze ins Groteske ab. Diese Gesellschaft bekämpft nicht irgendeinen äußeren Feind, sondern nur sich selbst. Sie ist ihr eigener Feind. Das von immenser Gewalt geprägte Verhalten der Männer und Frauen nimmt dabei oftmals autoaggressive Züge an. Mit großem Einfühlungsvermögen zeigt der Regisseur auf, welche katastrophalen Folgen es haben kann, wenn Menschen auf einem engen Raum zusammen eingesperrt sind. Die Welt, in der diese Leute schlussendlich beginnen, sich selbst zu zerfleischen, wird von ihm rigoros in Frage gestellt. Als Lösungsmöglichkeiten für den Konflikt bieten sich für Tcherniakov einzig der Humanismus und die nachhaltige Eliminierung jeglicher Form von Gewalt an. Mit mächtiger Stimme schreit er seine Warnung hinaus in die Welt, die hoffentlich nicht ungehört verschallt. Insgesamt haben wir es hier mit einer hoch spannenden, sehr innovativen und ungemein eindringlichen sowie von einer stringenten Personenregie geprägten Inszenierung zu tun, die mit zum Besten gehört, was die Rezeptionsgeschichte dieser Oper zu bieten hat.

Am Pult zeigt sich GMD Vladimir Jurowski in Bestform. Im ersten Akt animiert er das prachtvoll und intensiv aufspielende Bayerische Staatsorchester zu einer ausgeprägt lyrischen, fein zelebrierten und dabei durchweg weichen Tongebung. Im zweiten Akt lässt er es dann ordentlich krachen. Hier holt er ein Maximum an Fulminanz aus den bestens disponierten Musikern heraus und wartet mit einem Höchstmaß an Dramatik auf.

Die gesanglichen Leistungen bewegen sich ebenfalls auf insgesamt hohem Niveau. Andrei Zhilikhovsky singt mit bestens italienisch fokussiertem, hellem und geschmeidigem Bariton sowie großer Ausdrucksstärke einen phantastischen Fürsten Andrei. Hervorragende lyrische Raffinesse, eine sichere Höhe sowie einfühlsame Linienführung zeichnen die Natascha von Olga Kulchynska aus. Einen eleganten, sauber dahinfliessenden und baritonal timbrierten Tenor bringt Arsen Soghomonyan in die Partie des Pierre Bezukhov ein. Mit einem kraftvollen, ebenfalls vorbildlich italienisch fundierten Tenor stattet Bekhzod Davronov den Anatol Kuragin aus. Ein profund singender Kutuzov ist Dmitry Ulyanov. Mit warmem, ebenmäßig geführtem Mezzosopran gibt Christina Bock die Prinzessin Maria. Äußerlich sehr ungewohnte Züge verleiht Tomas Tomasson dem Napoleon, den er mit kernigem Bariton auch gut singt. Immer noch über beträchtliches Stimmmaterial verfügt die Maria Dmitrievna von Violeta Urmana. Als Fürst Bolkonsky und Matveyev gefällt Sergei Leiferkus. Der Dolokhov ist bei dem markant intonierenden Alexei Botnarciuc trefflich aufgehoben. Solide gibt Victoria Karkacheva die Hélène Bezukhova. Ordentlich präsentieren sich die vielen kleinen und kleinsten Rollen. Eine imposante Leistung erbringt der von David Cavelius einstudierte Bayerische Staatsopernchor.

Fazit: Eine hochrangige DVD, deren Anschaffung sehr zu empfehlen ist!

Ludwig Steinbach, 8. Mai 2025


Krieg und Frieden
Sergei S. Prokofiev
Bayerische Staatsoper

Inszenierung: Dmitri Tcherniakov
Musikalische Leitung: Vladimir Jurowski
Bayerische Staatsoper Recordings

Best.Nr.: LC96744
2 DVDs