Hier haben wir es wieder einmal mit einer ausgemachten Rarität zu tun: Nikolai Rimsky-Korsakovs Oper Sadko. Aufgezeichnet wurde eine Aufführung des Moskauer Bolschoi-Theaters vom Januar 2020. Der Oper zugrunde liegt eine mittelalterliche russische Volkssage aus dem Schatz der Bylinen von den phantastischen Abenteuern des Musikanten und späteren Kaufmanns Sadko, der auf eine historische Figur aus dem 12. Jahrhundert zurückzuführen ist. Hier handelt es sich um ein durchaus beachtliches Werk, das indes seit seiner Uraufführung am 7.1.1898 im Solodownikow-Theater in Moskau nur wenige Produktionen erlebt hatte. Bereits im Jahre 1906 wurde Rimsky-Korsakovs Oper am Bolschoi Theater herausgebracht. Am 25.1.1930 erfolgte an der New Yorker Metropolitan Opera die amerikanische Erstaufführung. Im Juni 1931 wagte sich die Covent Garden Opera London erstmals an den Sadko. In Deutschland stand das Werk erstmals im Jahre 1947 an der Berliner Staatsoper auf dem Spielplan – eine Aufführung, die damals großen Erfolg hatte. Trotz der großen Aufmerksamkeit, die ihr damals zu Teil wurde, konnte sich das Stück auf Dauer auf den großen Bühnen nicht durchsetzen. Sein Bekanntheitsgrad blieb gering. Umso erfreulicher ist es, dass sich das Bolschoi-Theater im Januar 2020 noch einmal an diese Oper wagte und damit einen großen Erfolg für sich verbuchen konnte. Die Musik ist von erlesener Schönheit. Dem romantischen Klangteppich kann man sich nur schwer entziehen, insbesondere dann nicht, wenn die Musik derart kultiviert, vielschichtig, differenziert, spanungsreich und schwelgerisch dargeboten wird wie von Dirigent Timur Zangiev und dem hervorragend disponierten Orchester des Bolschoi-Theaters.
Ob der Sadko sich auf Dauer durchsetzen kann, wird die Zukunft zeigen. Das Zeug dazu hat er. Einen guten Anteil daran wird sicherlich die vorliegende, bei Bel Air erschienene DVD haben, die in erster Linie konventionell eingestellte Gemüter erfreuen wird. In der Tat geht der auch in Deutschland bekannte Regisseur Dmitri Tcherniakov, der auch für das Bühnenbild verantwortlich zeichnet, zusammen mit seiner Kostümbildnerin Elena Zaitseva ganz anders an das Werk heran als man es sonst von ihm gewohnt ist. Gekonnt lässt er verschiedene Welten aufeinanderprallen. Vergangenheit und Gegenwart, Realität und Phantasie geben sich ein Stelldichein. Die Kaufleute sind ein äußerst traditionell und altbacken kostümierter sowie in herkömmlichen Traditionen erstarrter Haufen, der mit den Ansichten des rationalen, ganz den Werten der Gegenwart verhafteten und demgemäß modern gekleideten Sadko nichts anzufangen weiß und ihn demzufolge zum Außenseiter stempelt. In dieser Welt hält nur seine ebenfalls zeitgenössisch eingestellte und deshalb modern gewandete Frau Lubava zu ihm. Auch die Sadkos Phantasie entspringende Märchenwelt wird vom Regisseur äußerst traditionell dargestellt. So weit so gut. Indes wirkt dieser Ansatzpunkt etwas übertrieben. Das konventionelle Element dominiert die Aufführung doch allzu sehr. Die Grenze zum Kitsch wird manchmal in bedenklicher Weise gestreift, was nicht sein sollte. Zum größten Teil verkommt die Inszenierung zu einem Ausstattungsschinken, der zwar zugegebenermaßen schön anzusehen ist, den Liebhabern des modernen Musiktheaters, zu denen ich mich zähle, aber durchaus nicht behagt. Die Mäßigung, die Tcherniakov sich hier auferlegt hat, ist doch sehr verwunderlich. Vielleicht liegt es an dem russischen Publikum, das moderne Produktionen nicht zu mögen scheint. In Deutschland hat sich der Regisseur bisher immer sehr viel zeitgemäßer und radikaler gezeigt. Versöhnlich stimmt das letzte Bild, das auf einer leeren Bühne spielt. Die zuvor ebenfalls gänzlich märchenhaft gekleidete Volkhova entkleidet sich während ihres Schlummerliedes bis auf das Unterkleid und legt ein schlichtes zeitgenössisches Kostüm an, bevor sie schließlich die Bühne verlässt. Die anderen Mitwirkenden und der Chor stehen Sadko jetzt positiver gegenüber, akzeptieren seine Haltung und kommen deshalb nun ebenfalls zeitgenössisch gekleidet auf die Bühne. Nur der von der Regie als Spielleiter gedeutete ältere Pilger erscheint in seinem alten Kostüm. Dennoch kann sich das moderne Element auf Dauer nicht durchsetzten. Vereinzelte traditionelle Kostümbestandteile sowie das wieder hereingefahrene altbackene Hafenbild belegen dies.
Erheblich besser sieht es mit den gesanglichen Leistungen aus. Das Bolschoi-Theater verfügt wahrlich über ein phantastisches Ensemble! An erster Stelle ist Nazhmiddin Mavlyanov zu nennen, der mit sauber gestütztem, substanzreichem und ebenmäßig geführtem Tenor einen guten Sadko singt. Wunderbar ist der warm und geschmeidig klingende, dabei bestens fokussierte jugendlich-dramatische Sopran von Aida Garifullina in der Rolle der Volkhova anzuhören. Einen vollen, runden Mezzosopran bringt Ekaterina Semenchuk in die Partie der Lubava ein. Mehr von der lyrischen, vokal schlanken Seite her nähert sich Yuri Minenko der Hosenrolle des Nezhata. Profundes Bass-Material nennt Stanislav Trofimov als Meeresszar sein eigen. Gleichermaßen gut schneidet sein Stimmfachkollege Dmitry Ulianov ab, der mit hochkarätigem, sonorem Bass einen erstklassigen Waräger-Kaufmann singt. Bei dem kräftig, markant und mit schöner Linienführung intonierenden Alexey Nekludov ist der indische Kaufmann bestens aufgehoben. Andrey Zhilikhovsky ist ein prachtvoll vokalisierender venezianischer Kaufmann. Zweiter im Kreis der auf dieser DVD vertretenen Baritone ist Sergey Murzaev, der der Erscheinung des großen Helden als älterem Pilger stimmlich gleichermaßen Würde als auch Autorität zu verleihen weiß. Nichts auszusetzen gibt es an dem Whistle von Mikhail Petrenko. Bei den Nebenrollen ist zwar auch ein recht flacher, halsig klingender Tenor vertreten, insgesamt kann man aber auch mit diesen recht zufrieden sein. Eine imposante Leistung erbringt der prägnant singende, von Valery Borisov famos einstudierte Chor des Bolschoi-Theaters.
Fazit: Angesichts des doch arg konventionellen szenischen Rahmens der hier auf DVD gebannten Aufführung mag nun mancher alter Opernbesucher in Nostalgie verfallen. Meinetwegen. Ich tue das bestimmt nicht. Mein Geschmack ist ein anderer und in erster Linie von dem in Deutschland vorherrschenden modernen Musiktheater geprägt. Konventionelle Inszenierungen, wie hier, sind überhaupt nicht mein Fall. Die Oper an sich hätte es indes sicher in hohem Maße verdient, wieder mehr gespielt zu werden. Sie ist wahrlich nicht zu verachten!
Ludwig Steinbach, 3. Januar 2023
„Sadko“
Nikolai Rimsky-Korsakov
Bel Air 2021
Best.Nr.: BAC188
2 DVDs