Premiere: 4.12.2016
Große Wirkung trotz einiger Fragezeichen
Eine heftig bejubelte Premiere. Musikalisch ist das einschränkungslos nachvollziehbar. Darum sei entgegen dem üblichen Rezensions-Usus mit den Leistungen auf diesem Sektor begonnen. Die Essener Philharmoniker haben vor Jahren schon unter Stefan Soltesz eine bedeutsame Interpretation des „Lohengrin“ geboten. Der jetzige GMD Tomás Netopil findet bei seinem ersten Dirigat des Wagnerschen Musikdramas sogleich den rechten Zugang: Klangschönheit bei allen Instrumentengruppen, sphärisches Schimmern, nobles Pathos (besondere Wirkung: die Fanfarenbläser auf einer der hinteren Emporen). Die Chöre (Jens Bingert) besitzen hier elementare Wucht, dort luziden Piano-Wohllaut.
Für die Sänger stellt sogleich Martijn Cornet als markanter, jungmännlicher Heerrufer ein hervorragendes Zeugnis aus, Almas Svilpa folgt mit einem raumgreifenden Bassbariton als Heinrich der Vogler (die Leistung hätte mehr Beifall verdient). Heiko Trinsinger gibt den Telramund vielschichtig im Charakter, baritonal immer wieder aufbrausend. An seiner Seite Katrin Kapplusch als noch recht jugendliche Ortrud, auch stimmlich. Dass die Spitzentöne ein wenig grell geraten, wundert bei einer gestandenen Turandot freilich.
Elsa und Lohengrin: ein Traumpaar. Die britisch-kanadisch Sopranistin Jessica Muirhead vereinigt lyrische Zartheit mit kraftvoller Vokalresonanz; ihr Sopran klingt in allen Lagen gleich gut. Der Schwede Daniel Johansson singt den Lohengrin zum ersten Mal – man möchte es nicht glauben. Das Timbre erinnert ein wenig an das von Klaus-Florian Vogt, was das noble, fein lasierte Timbre angeht; allerdings klingt die Stimme erdhafter, maskuliner. Dieser Lohengrin vermittelt „Glanz und Wonne“ auf ideale Weise, dazu sieht der Sänger attraktiv aus.
Die Inszenierung stammt von Tatjana Gürbaca, in Sachen Wagner erst vor kurzem mit dem „Holländer“ in Antwerpen vorstellig. Mit ihr sowie mit den Ausstattern Marc Weeger (Bühne) und Silke Willrett (Kostüme) gibt es im Programmheft ein Konzeptionsgespräch zu lesen. Man möchte es gerne als Deutung dessen heranziehen, was realiter geboten wird. Dazu gehört nämlich manch Rätselhaftes. Aber die Auskünfte (wie auch die an anderer Stelle zu lesenden Auslassungen des Dramaturgen Markus Tatzig) sind intellektuell einigermaßen hochgestochen und verbal verschwurbelt. Man hält sich also besser an das, was man auf der Bühne zu sehen bekommt und mit schlichtem Menschenverstand zu verarbeiten imstande ist.
Immerhin: die Erklärung „Eine zu klein gewordene Lebensscholle, die nach Veränderung verlangt“ taugt begrenzt zum Verständnis des Bühnenbildes. Auf welche Weise visualisiert sich das Konzept aber zuletzt? Durch eine nüchterne Treppenlandschaft mit überhohen Stufen, eingeengt von massiven Seitenwänden, welche seitlich sitzenden Zuschauern den Blick auf die Bühne versperren. Im Mittelakt schiebt Telramund (!) die Sichtblenden beiseite und man blickt in eine große, kühle Leere. Die weiteren „Zutaten“ nehmen für diese Bühnenidee auch nicht sonderlich ein. Dass man im Finalbild an den historischen Szeniker Adolphe Appia denken muss, ist ebenfalls kein wirkliches Plus. Optisch also kaum etwas, womit einem die Oper näher rückt.
Bei der Regie ist das anders. Auch für sie sprechen, wie bereits angedeutet, weniger konzeptionelle Erläuterungen als visuelle Ergebnisse. Bei einem in enger Räumlichkeit versammelten Chor ist große Aktion kaum möglich. Muss es bei Tatjana Gürbaca aber auch nicht. Sie versteht die Brabanter als ein wenig individualisiertes Kollektiv, welches von einer Hochstimmung in die andere fällt. Mal verhöhnt man Elsa als „Hexe“ (Kleidüberwurf beim ersten Auftritt), mal trägt man sie auf Händen (Zug zum Münster). Das Land, von den Ungarn bedroht, steckt in der Bredouille, weswegen ja auch Zuchtmeister „König Heinrich“ aufkreuzt, um die Menschen für den Krieg zu begeistern. Er verrichtet stoisch das ihm auferlegte Amt, nicht mehr. Ein Ausführer. Die braven und immer gehorchenden Brabanter dürften kaum glücklich mit ihm sein, allen „Heil“-Rufen zum Trotz.
Und dann kommt Lohengrin, aussehend wie ein Wanderhirte. Etwas Magisches geht von ihm aus, eine Wirkung, die nicht wenig der außerordentlichen Bühnenpräsenz von Daniel Johansson herrührt. Der gute Hirte denkt man und assoziiert ihn unwillkürlich mit Jesus Christus. Ihm lag das Volks erst zu Füßen, später forderte es seine Kreuzigung. Ähnlich heterogen und gefühlsschwankend verhält sich in Essen der „Lohengrin“-Chor.
Warum verlässt der Gralsritter seine außerirdische Welt? Er hört „da draußen“ von Elsas Not und will helfen (von sich aus oder aufgrund höherer Weisung?) Ihn begleitet ein Knäblein (Schwan, Gottfried?), welches über die empor gereckten Hände der Brabanter leicht unsicher, wie auf schwankendem Boden seinen Auftritt absolviert. Lohengrin selber taucht eher von ungefähr in der Menschenmasse auf. In all diesen Momenten von chorischer Euphorie und Hysterie weiß Tatjana Gürbaca zu faszinieren. Warum das Kollektiv immer wieder mal dahin sinkt und im 3. Akt ein Soldat offenbar epileptische Anfälle bekommt, entschlüsselt sich dem Zuschauer allerdings nicht. Und wie die Regisseurin den Brautchor vergackeiert, verärgert in solch oberflächlicher Albernheit nachdrücklich.
Die Brautgemach-Szene gerät indes hochspannend. Elsa und Lohengrin sind nicht alleine, der Knabe, von dem der Bräutigam nicht lassen zu wollen scheint, ist ständig um sie. Ein adoleszentes Alter Ego des gereiften Mannes, der das Leben seinerseits noch nicht beherrscht? Elsa will den attraktiven Mann – drastisch ausgedrückt – ins Bett bekommen, macht ihn an auf Teufel komm raus. Ihre erste Umarmung hält er schon mal nicht aus. Später flüchtet er sich immer wieder in schöne Worte („Atmest du nicht“).
Wurde Lohengrin im „fernen Land, unnahbar euren Schritten“ etwa klösterlich und zölibatär erzogen und dadurch verklemmt? Ist ihm das „Elsa, ich liebe dich“ im 1. Akt lediglich vorschnell entschlüpft? Ist er zuletzt gar froh, dass er „nur ein Jahr an deiner Seite“ bei Elsa gar nicht absolvieren muss? Er kehrt zurück in seine ferne Enklave, von den Ereignissen aber doch nachhaltig gezeichnet. Das sind wirklich schmerzvoll erschütternde Momente der Inszenierung. An ihnen liegt es wohl auch, dass man Wagners Musik mit Tränen in den Augen hört.
Ein eigenwilliger Regieakzent wäre noch zu beschreiben, das Verhältnis Elsa-Ortrud betreffend. Die Gattin Telramunds ist ja nun wirklich die Bösartigkeit in Person. Beim Gang zum Münster ohrfeigt sie Elsa sogar und nimmt sie doch wenig später beschwichtigend und schwesterlich in die Arme. Das „Fahr heim, du stolzer Helde“ ist in Essen weniger Finale eines Racheakts, als eine letzte emanzipatorische Eruption. Die Aufführung am Aalto-Theater besitzt Fragwürdigkeiten, aber sie lässt nicht kalt. Insofern ist die einhellige Begeisterung des Publikums am Schluss doch irgendwie zu verstehen.
Christoph Zimmermann 5.12.2016
Bilder (c) Karl und Monika Forster