Dünne Geschichte
Bei der Lektüre der Inhaltsangabe des Musicals Das Licht auf der Piazza, das jetzt in Gelsenkirchen Premiere hatte und auch noch in Wuppertal zu sehen sein wird, ist man etwas ratlos: Die US-amerikanische Mutter Margaret reist 1953 mit Tochter Clara nach Italien. Die Tochter verliebt sich in Florenz in den jungen Italiener Fabrizio. Beide Elternpaare sind gegen die Beziehung. Warum hat Adam Guettel 2003 aus solch einer banalen Geschichte ein Musical gemacht?

Den eigentlichen Konflikt bezieht die Geschichte daraus, dass Tochter Clara als Kind einen Unfall hatte und seitdem in ihrer sprachlichen und sozialen Kompetenz beeinträchtigt ist. Das führt gelegentlich zu komödiantischen Situationen, die aber nur dezent angedeutet werden, weil die Figur sonst diskriminiert würde. Gewichtiger sind dramatische Augenblicke, so als Clara ihrer zukünftigen Schwägerin in einem Eifersuchtsanfall mit dem Tod bedroht, weil sie Fabrizio mit einem Kuss gratuliert.
Die Musik von Adam Guettel, bei dem es sich um den Enkel von Richard Rodgers handelt, ist leicht, luftig und von Licht durchflutet. Der Streicherklang der unter Mateo Penaloza Cecconi spielenden Neuen Philharmonie Westfallen wird immer wieder durch Harfe, Klavier und Stabspiele aufgehellt. Große Ohrwürmer enthält die Musik nicht, sie geht aber bestens ins Ohr.
Musicalspezialist Carsten Kirchmeier hat für das große Haus in Gelsenkirchen eine oft kammerspielartige Inszenierung entworfen, in der die Akteure mit kleinen Gesten und Blicken ihre Gefühle ausdrücken. Die Figuren sind sehr sensibel gestaltet, so dass authentische Charaktere entstehen. Zusätzlich bevölkern gelegentlich einige Statisten wie Händler oder Passanten die titelgebende Piazza. Im Bühnenbild von Julia Schnittger dominieren die Pastellfarben. Die Häuser und Straßen sowie die Innenräume bestehen alle aus gerahmten Ansichten.

Unverständlich ist, dass die auf Deutsch gesungene Lieder, die durch Mikroportverstärkung bestens verständlich sind, übertitelt werden, während italienische Dialoge nicht mit Übertitelung versehen werden. Da kann man als Zuschauer aufgrund der guten darstellerischen Leistung der Akteure stets nur vermuten, wie die Stimmungslage der Figuren ist.
Die Sänger agieren alle mit Verstärkung, so dass sie ihre Songs feiner nuancieren können. Dies merkt man vor allem bei Anke Sieloff als besorgte Mutter Margaret und Katherine Allen als naiv-begeisterungsfähige Tochter Clara. Luc Steegers singt den Fabrizio mit viel Enthusiasmus. Einen respekteinflößenden Signor Naccarelli spielt Patrick Imhof.
Der Rezensent schwankt während der Aufführung zwischen Enttäuschung über die dünne Geschichte und Staunen über die Qualität und Genauigkeit der Aufführung. Nach der Vorstellung ist der Rezensent dann über den riesigen Jubel, der im Publikum losbricht, erstaunt. Offensichtlich hat das Musiktheater im Revier mit dieser Produktion doch alles richtiggemacht.

Florenz als Schauplatz wird in Gelsenkirchen demnächst noch einmal eine Rolle spielen: Am 31. Januar 2026 folgen nämlich als Doppelabend Puccinis „Gianni Schicchi“ und Rachmaninovs „Francesca da Rimini“. Wuppertal, wo das „Licht auf der Piazza“ ab dem 7. März 2026 in eigener Besetzung gespielt wird, setzt noch einen drauf: Dort ist mit Antonio Vivaldis „Griselda“ und „Der Florentiner Hut“ von Nino Rota nämlich noch viel mehr Florenz zu erleben.
Rudolf Hermes, 12. November 2025
Das Licht auf der Piazza
Adam Guettel
Gelsenkirchen, Musiktheater im Revier
Premiere: 2. November 2025
Besuchte Vorstellung: 7. November 2025
Regie: Carsten Kirchmeier
Musikalische Leitung: Mateo Penaloza Cecconi
Neue Philharmonie Westfalen