Besuchte Aufführung: 28.12.2016, (Premiere: 24.10.2015)
Reise ins Innere
An diesem Nachmittag hatte am Theater der Stadt Heidelberg der Krankheitsteufel zugeschlagen. Die Sängerin des Hänsel Elisabeth Auerbach und Ks. Carolyn Frank, die die Hexe und die Mutter Gertrud singen sollte, waren unpässlich. Gott sei Dank wird „Hänsel und Gretel“ derzeit auch im benachbarten Mannheim gespielt. Drei der in der dortigen Produktion besetzten Sänger hatten dann auch Zeit, an diesem Tag nach Heidelberg zu kommen.
Marie-Belle Sandis war darstellerisch ein recht burschikoser Hänsel, den sie mit gut sitzendem, sauber geführtem Mezzosopran auch gut sang. Schauspielerisch perfekt erschien Uwe Eikötter in der Partie der Knusperhexe. Gesanglich machte er aus der bösen Zauberin eine maskig klingende Charakterstudie. Einen profunden Mezzo brachte Edna Prochnik für die Gertrud mit. Soweit zu den Gästen vom Nationaltheater Mannheim. Nun zu den Heidelberger Sängern. Hye Sung Na erwies sich schon von ihrer kleinen, zierlichen Gestalt her als ideale Besetzung für die Gretel. Auch stimmlich vermochte sie mit ihrem vorbildlich fokussierten, kräftigen und höhensicheren Sopran zu überzeugen. Eine treffliche Leistung erbrachte auch James Homann als kraftvoll und markant singender Besenbinder Peter. Kräftig ins Zeug legte sich Marijke Janssens in der Doppelrolle des Sandmännchens und des Taumännchens. Ansprechend sang der von Anna Töller einstudierte Kinder- und Jugendchor des Theaters und Orchesters Heidelberg.
Hye Sung Na (Gretel), Hänsel
Angesichts der vielen Gäste, die wohl nicht allzu ausführlich in die Inszenierung von Clara Kalus – Bühnenbild: Nanette Zimmermann, Kostüme: Maren Steinebel – eingewiesen werden konnten, war es nicht weiter verwunderlich, dass das Ganze von der Personenregie her an diesem Nachmittag etwas improvisiert wirkte. Gewichtigere Folgen für die Produktion hatte darüber hinaus insbesondere der Fakt, dass die Partien der Hexe und der Gertrud nicht von derselben Sängerin gesungen wurden. Frau Kalus versteht die Hexe als verzerrtes Angstbild der Mutter. Aus diesem Grunde wurden beide Rollen ursprünglich derselben Sängerin anvertraut. Die Erkrankung von Frau Frank und die daraus resultierende Besetzung beider Partien mit zwei Sängern hat dazu geführt, dass dieser Hauptaspekt der Inszenierung an diesem Nachmittag gänzlich eliminiert war und deshalb hier auch nicht weiter ausgeführt werden soll.
Ansonsten konnte man mit der Inszenierung aber durchaus zufrieden sein. Sie stellt eine ansprechende Gratwanderung zwischen Märchenoper und spannendem Musiktheater dar. Sie ist kindgerecht, andererseits aber auch psychologisch grundiert, was sie sowohl für Kinder als auch für Erwachsene als geeignet erscheinen lässt. Sowohl dem Auge als auch dem neugierigen Intellekt wird hier viel geboten. Die Bilder und die Kostüme erfreuen den Betrachter, gleichzeitig wird man zum Denken angeregt – eine treffliche Kombination. Die Regisseurin hat sich über das Stück einleuchtende Gedanken gemacht. Ihre Konzeption weist die verschiedensten Aspekte auf, ist neben dem Märchen auch Pubertäts- und Emanzipationsgeschichte sowie psychologische Studie. Hier haben wir es also mit einem sehr interessanten Gemisch zu tun, was den Nachmittag dann auch in hohem Maße anregend erscheinen ließ.
Hänsel, Hye Sung Na (Gretel)
Hänsel und Gretel werden in ihrem Elternhaus in bürgerlicher Strenge erzogen. Vater und Mutter legen großen Wert auf Tischmanieren und sauber gefaltete Servietten. Peter reagiert unwirsch, als Hänsel sich über die ihm nicht schmeckende Suppe beschwert. Nahrung ist immerhin Mangelware. Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt. Die Armut regiert das Leben und treibt in erster Linie Gertrud, die sich schließlich nicht mehr zu helfen weiß, zur Verzweiflung. Aus einer Art Ohnmacht heraus wird sie letzten Endes ungerecht zu den Kindern, die sie an sich aber lieb hat. Es ist nur zu verständlich, dass Hänsel und Gretel von ihrem beschränkten Verständnishorizont aus die Lage daheim anders wahrnehmen als ihre Eltern und darauf aus sind, sich von diesen zu emanzipieren. Sie wollen endlich erwachsen werden. Auf der anderen Seite können sie es aber nicht ertragen, dass die Mutter traurig ist und sich ihnen verweigert. Irrtümlicherweise suchen sie die Verantwortung dafür bei sich selbst, was sie schlussendlich in den durch Projektionen erzeugten Wald treibt, in das verworrene Dickicht ihrer ausgeprägten Schuldgefühle.
Dieser ist symbolisch zu verstehen und als Abstieg der Geschwister in das Unterbewusste zu deuten. Das Verirren im Wald meint eine Selbstfindung, die die Kinder durchlaufen müssen, um erwachsen zu werden. In der Pantomime des zweiten Aktes wird ihre Entwicklung überzeugend aufgezeigt: Immer mehr Alter Egos von Hänsel und Gretel in verschiedenen Altersstufen, ältere und jüngere, wandeln über die Bühne. Hier wird von Frau Kalus gekonnt der Verlauf eines Menschenlebens aufgezeigt und der Weg der beiden kleinen Träumer vorweggenommen. Andererseits handelt es sich bei diesem Bild aber um ein Phantasiegebilde der Geschwister. Alles spielt sich aus ihrer Perspektive ab. In Anlehnung an Sigmund Freuds „Traumdeutung“ erzeugt der Wald in ihnen Angstvisionen, deren größte die Hexe ist. Indem die Kinder die böse Magierin am Ende besiegen, haben sie eine nicht unerhebliche Hürde auf dem Weg zum Erwachsenwerden genommen und sind nun fähig, das Verhalten der Eltern besser zu begreifen.
Hexe, Hye Sung Na (Gretel)
Eine ausgezeichnete Leistung ist GMD Elias Grandy am Pult zu bescheinigen. Zusammen mit dem versiert aufspielenden Philharmonischem Orchester Heidelberg schöpfte er insbesondere bei den an Wagner gemahnenden Passagen – so beim Hexenritt und bei der an „Ring“ und „Meistersinger“ gemahnenden Pantomime – aus dem Vollen. Aber auch die mehr volksliedhaften Elemente klangen unter seiner Leitung recht intensiv und ausdrucksstark. Der von ihm und den Musikern erzeugte Klangteppich war obendrein recht differenziert und nuancenreich und wies eine reichhaltige Farbpalette auf.
Ludwig Steinbach, 29.12.2016
Die Bilder stammen von Annemone Taake