
OF: Lieber Herr Wieler, lieber Herr Morabito, vor kurzem haben Sie am Deutschen Nationaltheater Weimar mit immensem Erfolg Weinbergs grandiose Oper Die Passagierin inszeniert. Wie kam es dazu, dass Sie beide zu den Regisseuren dieser phantastischen Neuproduktion gekürt worden sind?
W,M: Wir verdanken diese Möglichkeit Andrea Moses, der Operndirektorin des DNT Weimar. Vor zwei Jahren durften wir an ihrem Haus bereits Bellinis I Capuleti e i Montecchi inszenieren. Damals haben wir das hohe szenische Ethos des Weimarer Solistenensembles und des Chores kennen und schätzen gelernt. Die Wertschätzung war eine wechselseitige und so rannte unsere Wiedereinladung offene Türen auf beiden Seiten ein.
OF: Was ist Ihrer Ansicht nach das Besondere an der Passagierin?
W,M: Dass hier ein polnisch-jüdischer Komponist unter widrigsten Umständen, nämlich der zu Ende gehenden Tauwetter-Periode in der Sowjetunion, den Mut aufgebracht hat, das Thema der nationalsozialistischen Konzentrationslager zu verhandeln, und das ästhetisch so kompromisslos, dass das Werk prompt verboten wurde und beinahe völlig vergessen werden konnte.
OF: Haben Sie die Passagierin bereits früher gekannt?
M: Ich hatte die szenische Erstaufführung in Bregenz am Bildschirm verfolgt und Aufführungen in Karlsruhe und Graz besucht.
OF: Wie haben Sie sich auf die Weimarer Produktion der Passagierin vorbereitet?
W,M: Wie immer haben wir uns mit unserer Bühnen- und Kostümbildnerin Anna Viebrock durch gemeinsames Lesen, Hören und Diskutieren angenähert. Wir haben uns Gestaltungen des Holocaust in den darstellenden Künsten angesehen, von Lanzmanns Shoah, über Peter Weiss‘ Die Ermittlung bis hin zu Tarantinos Inglorious Basterds, und uns mit den Klassikern der Holocaust-Forschung auseinandergesetzt, aber auch mit neueren Untersuchungen, die die immense, bis heute unterbelichtete Dimension sexueller Gewalt des nationalsozialistischen Vernichtungswerks untersuchen.

OF: Lieber Herr Wieler, wie war es für Sie als Regisseur jüdischer Abstammung gerade diese Auschwitz-Oper auf die Bühne zu bringen? Handelte es sich für Sie dabei um eine Arbeit wie jede andere Inszenierung auch oder taten Sie sich schwerer damit als mit Ihren sonstigen Regiearbeiten?
W: So herausfordernd ich es finde, mich mit dem schwer darstellbaren Grauen Auschwitz im Theater überhaupt auseinanderzusetzen, so fand ich die Konfrontation mit der Passagierin eine geradezu lohnende Reise in die unmittelbar vergangene Geschichte, die zeithistorische, wie auch diejenige des jüdischen Volkes. In Weinbergs Oper ist in jedem Moment und in jeder Situation sein persönlicher Schmerzpunkt spürbar. So gelesen und gehört, ist das Werk auch ein Requiem auf seine eigene, in der Shoah ermordete Familie.
OF: War der Premierentermin der Weimarer Passagierin, der nur einen Tag vor der großen Gedenkveranstaltung zur Befreiung des in unmittelbarer Nähe von Weimar gelegenen Konzentrationslagers Buchenwald lag, zufällig gewählt oder verfolgte man am Weimarer Nationaltheater damit eine konkrete Absicht?
W,M: Ja, das DNT hat zu diesem Anlass unter dem Titel Ressource Erinnerung eine ganze Themenwoche mit Tanz und Theater, Konzerten, Lesungen, Workshops und Gesprächen erarbeitet, in deren Rahmen auch die Passagierin-Premiere stand.
OF: Lieber Herr Morabito, welchen Stellenwert nimmt die Weimarer Passagierin in der bisherigen Rezeptionsgeschichte des Werkes ein?
M: Wir haben versucht, uns von der Schockstarre zu befreien, die im Umgang mit dem Thema Auschwitz nur allzu begreiflich ist, die aber zu einer Art ritualisiertem Gedenken führen kann, bei dem sich die Phantasie von der Angst, nur ja nichts falsch zu machen, lähmen lässt. Wenn ich richtig sehe, ist die Weimarer Inszenierung nicht die erste, die von einer standardisierten KZ-Ikonographie Abstand nimmt, sie tut dies aber, ohne dafür Weinbergs Partitur zusammenzustreichen.
OF: Lieber Herr Morabito, Sie haben zusammen mit Susanne Felicitas Wolf eine neue deutsche Übersetzung der Passagierin geschaffen, die jetzt in Weimar gespielt wird. Warum haben Sie das Stück neu übersetzt? Welche Intentionen verfolgten Sie damit?
M: Man sollte sich als Theaterschaffender nie auf allgemeine Vorannahmen verlassen, sondern immer ganz genau wissen wollen, was in einer Partitur und in einem Libretto steht und was nicht. Und ob eine vorliegende Übersetzung vielleicht inhaltlich richtig ist, den komponierten Gestus und die Sprachmelodie aber zu wenig berücksichtigt. Vor allem auch, was Letzteres angeht, sahen wir Handlungsbedarf. Die Rückmeldungen, die wir bisher erhalten haben, stimmen uns zuversichtlich, dass Susanne F. Wolf und ich, im Rückgang auf die Fiber des tatsächlich Gedichteten und Komponierten, dieser großartigen Oper ein Stück weit nähergekommen sind.
OF: Warum haben Sie auf eine Aufzeigung der Gräueltaten von Auschwitz so gänzlich verzichtet?
W,M: Weil wir die Auffassung teilen, dass sich diese jeder Abbildbarkeit entziehen. Der legendäre Theatervisionär Artaud sprach von einem Theater der Grausamkeit. Wir glauben, dass Grausamkeit auf dem Theater nicht illustriert werden kann. Sie muss durch eine gewissermaßen gnadenlose Präzision in der szenischen Durchdringung von Situationen und Figuren im Kopf der Zuschauer entstehen.
OF: Wie kamen Sie auf die Idee, die Handlung als Totengericht zu interpretieren und das Ganze im Bürgerhaus Gallus anzusiedeln, in dem zu Beginn der 1960er Jahre der Frankfurter Auschwitz-Prozess stattfand?
W,M: Als wir verstanden hatten, dass Weinbergs Oper versucht, sich Auschwitz fünfzehn Jahre nach Kriegsende über die Erinnerungen einer Täterin und eines Opfers zu nähern, haben wir in unsere Recherche auch die Frankfurter Auschwitz-Prozesse einbezogen. Man darf nicht vergessen, dass eine Mehrheit der Bundesdeutschen gegen dieses Verfahren war. Wahrscheinlich würde heute mit der Behauptung, es sei daher demokratisch nicht legitimiert, Stimmung gemacht. Aber damals hat der Rechtsstaat aufgrund des unermüdlichen Einsatzes von Leuten wie dem Frankfurter Oberstaatsanwalt Fritz Bauer eben doch funktioniert. Das Verfahren machte uns sehr bewusst, dass es eine Stunde Null nie gegeben hat. Die deutschen Täter haben ihre Naziuniformen verbrannt, aber ihre menschenverachtende Ideologie hat nach innen und außen weitergewirkt. Auch deshalb würde man es sich auf dem Theater zu einfach machen, wenn man die Täter einfach in Naziuniformen steckt. Ilse Aichinger hat einmal gesagt: Im Krieg wusste man wenigstens bei jedem, wes Geistes Kind er ist, nach dem Krieg hätten die Leute sich verstellt und nur noch gelogen – letzteres fand Aichinger fast noch schlimmer. Und genau davon sind wir heute wieder bedroht. Weniger von den Dumpfbacken mit Nazidevotionalien als von den sich als libertär bezeichnenden, mit ziviler Perlenkette oder Krawatte auftretenden Stimmenfängern vom rechten Rand.

OF: Der Vernehmungsstuhl entstammt nicht dem Frankfurter Auschwitz-Prozess, sondern gemahnt an ein Photo, auf dem die KZ-Aufseherin Ilse Koch bei ihrem Verhör während des Buchenwald-Prozesses zu sehen ist. Worin sehen Sie die Parallelen zwischen Lisa, der in Ihrer Passagierin-Inszenierung der Prozess gemacht wird, und Ilse Koch, der Bestie von Buchenwald?
W,M: Es handelt sich bei diesem merkwürdig aufgebockten Vernehmungsstuhl um ein real dokumentiertes Objekt, das Anna Viebrocks Aufmerksamkeit erregt hat und das sich in ihrem Raum einerseits fremd ausnimmt und andererseits stimmig integriert. Anna hat es mit Rädern versehen, sodass man damit auch herumfahren kann. Zum Beispiel die Oberaufseherin, die ja – ebenso wie die Lisa – auch ein reales Vorbild hat, nämlich Maria Mandl, die das Mädchenorchester von Auschwitz aufbaute. Sie lässt sich zu Beginn des zweiten Aktes während des von uns so genannten Selektionswalzers von zwei SS-Männern dirigierend durch die tanzenden und zusammenbrechenden Häftlinge steuern. Aber auch hier geht es uns weniger um den Bezug auf eine ganz bestimmte historische Gestalt, sondern um die unfassbaren, nahezu unwirklich anmutenden zynischen Gewaltexzesse, zu denen Menschen fähig waren und sind.
OF: Warum lassen Sie in Ihrer Produktion das Gericht an keiner Stelle auftreten?
W,M: Wir können und wollen das Stück nicht als Gerichts-Doku erzählen. Es ist ein surreales Totengericht, das die Täter mit ihren Opfern konfrontiert, von denen auch die wenigen, die überlebten, Auschwitz Zeit ihres Lebens nie mehr verlassen haben, wie Zofia Posmysz einmal von sich meinte. Die leere Richterbank ist aber eine Leerstelle, auf der jede Zuschauerin und jeder Zuschauer Platz nehmen darf.
OF: Wie würden Sie das Urteil gegen Lisa formulieren? Wie würde dieses lauten?
W,M: Um zu einer juristischen Urteilsfindung zu kommen, müsste sie vor ein real existierendes Gericht gestellt werden. Viele Aspekte, die uns auf dem Theater an Lisa interessieren, hätten dort keinen Platz – und umgekehrt.
OF: Wie sehen Sie die Beziehung Lisas zu Marta? Ist Lisa Marta vielleicht in einer Art lesbischer Liebe zugetan?
W,M: Genau das scheint der Fall zu sein. Während im Roman von Zofia Posmysz, der Vorlage der Oper, angedeutet wird, dass das Verhalten Lisas auf die Frustration zurückzuführen ist, keine Kinder bekommen zu können und sich von einem Mann nicht geliebt zu fühlen, empfindet die Lisa der Oper beim Buhlen um die Gunst der Gefangenen Marta deren Verlobten Tadeusz als Rivalen. Dass es ein gleichgeschlechtliches Begehren ist, das Lisa auf Marta fixiert, wurde bereits in der Verfilmung der Passagierin durch Andrzej Munk angedeutet.
OF: Lieber Herr Morabito, kann es sein, dass Lisa unter einer Psychose leidet? Wenn ja, wie drückt diese sich aus?
M: Nun, diese Frau lebt unter einem gewaltigen Druck. Sie hat ihre gesamte Identität mitsamt ihrer sexuellen Orientierung nach dem Krieg weggepackt, um sich der Nachkriegsgesellschaft als deutsches Fräuleinwunder zu präsentieren. Dafür ist sie sogar die Ehe mit einem Mann eingegangen, der ihr erotisch nichts bedeutet. Diese ständige Selbstverleugnung muss psychopathologische Folgen zeitigen, eine zwanghafte Munterkeit einerseits und eine regelrechte Besessenheit andererseits, mit der sie die sie bedrängenden Geister aus jener Zeit auszutreiben versucht.
OF: Sie haben zusammen mit Frau Viebrock die Häftlinge durchweg modern und gut-bürgerlich, manchmal sogar elegant gekleidet. Was hat es mit dieser Kostümierung auf sich?
W,M: Wir wollten die Ermordeten nicht als Nummern zeigen, sondern so, wie Weinberg vielleicht seine Eltern und seine Schwester, von denen er auf der Flucht getrennt wurde, und die, anders als er, ermordet wurden, in Erinnerung behalten hatte. Wenn beim Appell nun die Häftlingsnummern aufgerufen werden, aber es uns ganz nahe rückende Individuen einer Zivilbevölkerung sind, die Folge leisten, können wir den Abgrund ermessen, der sich zwischen einem lebenden Menschen und seiner Reduktion auf eine Nummer auftut. Eine andere Assoziation war der Gedanke, dass es die nach einer Selektion übriggebliebenen Kleiderberge sind, in denen ihre ehemaligen Träger wieder lebendig werden.
OF: In Weimar gibt es leider nicht allzu viele Aufführungen der Passagierin – nur fünf. Das ist für ein so grandioses Werk viel zu wenig. Könnten Sie sich vielleicht vorstellen, Ihre Weimarer Passagierin-Inszenierung beispielsweise an der Stuttgarter Staatsoper, wo Sie beide von 2011 – 2018 Intendant bzw. Chefdramaturg waren, ebenfalls herauszubringen? In Stuttgart würde es ja sicher mehr Aufführungen geben und das Stück wohl auch mehrere Spielzeiten laufen. Wäre eine solche Übernahme in Ihrem Interesse?
W,M: Uns geht es wie Ihnen! Wir haben einige unserer Arbeit verbundene Intendanten auf die Aufführung aufmerksam gemacht und würden uns über eine Zukunftsperspektive für diese Inszenierung außerordentlich freuen.
OF: Vielen Dank für das Interview
Ludwig Steinbach, 23. April 2025