Köln: Russische Vielseitigkeit

Gürzenich-Orchester

Dmitrij Kitajenko (Leitung), Xavier de Maistre (Harfe)

Wenn Dmitrij Kitajenko das Gürzenich-Orchester leitet, steht in der Regel russische Musik zu erwarten. Die vor kurzem auf CD veröffentlichte zweite Sinfonie von Jean Sibelius ist da bereits als Ausnahme zu betrachten. Die programmatische Konzentration hat natürlich ihre Reize, doch würde man das künstlerische Bild des Dirigenten hin und wieder gerne durch Mozart, Beethoven u.a. vervollständigt sehen.

Ein Vorteil der bislang gepflegten Werkauswahl liegt natürlich auf der Hand, nämlich eine spezielle Repertoireerweiterung, welche den Erlebnishorizont der Kölner Konzertbesucher erweitert, auch wenn nicht immer gleich exotische Werkentscheidungen zu erwarten stehen. Gesamteinspielungen der Sinfonien von Rachmaninow, Prokofjew, Schostakowitsch und Tschaikowsky sind beispielsweise auch von anderen Orchestern und Dirigenten zu haben. Die jetzt offerierte Streicher-Serenade des letztgenannten Komponisten ist sogar ausgesprochenes musikalisches Allgemeingut, auch wenn beim Gürzenich-Orchester die letzte Aufführung schon zwanzig Jahre zurück liegt. Alexander Skrjabins „Le Poème de l’extase“ war allerdings vor einem Jahrzehnt zu hören gewesen. Noch nie gespielt wurde hingegen Reinhold Glières Harfenkonzert.

Für diese Werkwahl ausgesprochen hat sich zweifellos auch Xavier de Maistre, der smarte Franzose, welcher der Harfe eine neue, vitale Bedeutung im aktuellen Konzertleben verschaffen hat. Bei den von ihm eingespielten Konzerten für dieses Instrument tauchen z.T. unbekannte Komponistennamen auf (Krumpholz, Hartmann, Zabel), und zahllos sind die bearbeiteten Solopiècen (bekanntestes Beispiel: Smetanas „Moldau“). In Köln lernte man (als Zugabe) Gioacchino Rossinis „Karneval in Venedig“ kennen, ein zuckersüßes Virtuosenstück.

Glière ist ein reichlich aus der Zeit gefallener Komponist. Wie Tschaikowsky gehört er zu den „Westlern“, während das „mächtige Häuflein“ eine dezidiert nationale Tonsprache pflegte. Aber auf dieses Idiom schwor sich bei Bedarf auch Glière immer wieder ein, und seine populäre Tonsprache war dem sowjetischen Regime per se sympathisch. Kein Wunder, daß der Komponist immer wieder um patriotische Werke ersucht wurde, so beim Ballett „Der rote Mohn“.

Das vor achtzig Jahren uraufgeführte Harfenkonzert wurzelt tonsprachlich im 19. Jahrhundert, gibt sich harmonisch friedfertig und strahlt Optimismus aus. Der retrospektive Gestus wurde Glière verschiedentlich auch angekreidet, doch darf man in ihm neben der beiläufigen Anpassung an nationale Ideologien auch eine ganz persönliche musikalische Überzeugung erkennen. Selbst im Westen war durchaus nicht jeder Komponist gewillt, der von Arnold Schönbergs Zwölfton-Technik ausgehenden Radikalisierung der Musiksprache nachzukommen, was selbst heute teilweise noch gilt. Wie auch immer: Glières Harfenkonzert ist ein affektgeladenes Wohlfühl-Stück, fantasievoll gearbeitet und die klanglichen Möglichkeiten des Soloinstrumentes geschickt nutzend. Dem Finale eignet Rausschmeißer-Qualität.

Xavier de Maistre griff gewissermaßen mit vollen Händen in seine golden glänzende Harfe, zumal bei rauschhaften Glissandi. Faszinierend zu sehen war, wie der Künstler mit einer fast spinnenhaften Gelenkigkeit seine Finger über das Saitentableau bewegte. Auffallend die Disziplinierung von Hallwirkungen, bei der Harfe oft ein Problem. De Maistres Interpretation geschah in ständigem Blickkontakt zu Dmitrij Kitajenko, „mit dem ich so gerne musiziere“, wie der Harfenist vor kurzem in einem Musikmagazin verlauten ließ. Und das „wunderbare“ Gürzenich-Orchester machte seiner Einschätzung alle Ehre. Irgendwann soll ein CD-Mitschnitt veröffentlicht werden; bis dato gibt es ja keine Glière-Aufnahme von de Maistre.

Dmitrij Kitajenko ist kein Mann großer Gesten. Bei Tschaikowskys Serenade, welche mit ihrem klassizistischen Schwung durchaus zu körperlicher Bewegtheit am Pult hätte animieren können, fiel das ruhige, umsichtige Dirigat besonders auf. Allerdings wurden wichtige Einsätze mit der Rechten knapp, aber unmißverständlich gegeben. Kitajenkos Lesart selber war keine ausgesprochen tänzerisch belebte. Der breite, sämige Beginn ließ fast an Pathétique-Schmerzlichkeit denken, der Elegie eignete etwas religiös Inbrünstiges. Selbst das durchaus tempoforsch genommene Finale besaß eine gewisse Erdenschwere.

Zum Abschluß Skrjabins „Poème de l’extase“. Obwohl der Titel nicht direkt sexuell gemeint ist, gehört körperliche Erregung zu den Ausdrucksintentionen des relativ jung verstorbenen Komponisten. Am wichtigsten war Skrjabin freilich des Menschen Erhebung zu geistigen, spirituellen Höhen. Seine Musik bestätigt das mit einem Blütenmeerteppich an fragilen, erotisch grundierten Klängen, in welchem Instrumentalsoli immer wieder besondere Farbtupfer setzen. Man wird als Zuhörer von dieser sphärischen, gelegentlich auch fortepathetischen Musik förmlich aufgesogen. Das riesig besetzte Orchester (plus Orgel) brauste zuletzt wie ein Donnerhall.

In die Klangmassen mischte sich ein Chor (zu Gast vom WDR), welcher mit seinen Vokalisen für sage und schreibe lediglich 21 Takte zum Einsatz kam. Der Aufwand ist groß, die Wirkung freilich immens. Initiiert hat diese Fassung Yuri Ahronovitch, von 1975-1986 Gürzenich-Chef. Er beruft sich auf eine im Programmheft nicht näher erläuterte „Urfassung“. Oft wird man diese Version sicher kaum zu hören bekommen. Das glückliche Kölner Publikum dankte lautstark für die Aufführung, deren Widergabe keinen Wunsch offen ließ.

Foto (c) Philharmonie / Hohenberg

Christoph Zimmermann (13.11.2018)