Regielich faszinierend, wenn auch irritierend – musikalisch eine Sternstunde
Salome war einer der größten Welterfolge des Musiktheaters seit ihrer Uraufführung in Dresden 1905. Schon ein Jahr später wurde das Werk auch in Berlin, an der Königlichen Hofoper Unter den Linden nachgespielt. Seither steht das Werk in Berlin immer auf dem Spielplan, sowohl an der heutigen Staatsoper Unter den Linden als auch in der Deutschen Oper Berlin. Nun ist es auch an der Komischen Oper herausgekommen. Man war gespannt, mancher war skeptisch, denn das musikalisch höchst anspruchsvolle, blutrünstige Werk ist weiß Gott alles andere als eine komische Oper und sprengt das Repertoire des Hauses an der Behrenstrasse, das wegen Umbaus seit der Spielzeit 2023/24 im Schillertheater spielt.
Eine biblische Geschichte wurde zum Vorbild für einen der größten Erfolge des Komponisten. König Herodes hat ein Auge auf seine Stieftochter, auf Salome. Sie ekelt sich vor seinen unziemlichen Blicken und hat ihrerseits ein Auge auf einen anderen Mann geworfen: auf den gefangenen Propheten Jochanaan, der Salome aber keines Blickes würdig findet. Der König gebietet Salome, für ihn zu tanzen; er wünscht, sie zu sehen, ganz und gar – ohne Hüllen. Der Tanz der sieben Schleier ist das prekäre Ereignis: Salome bietet sich entblößend den Blicken des Königs und seiner Festgemeinschaft an. Für diesen Tanz will sie einen extremen Lohn von Herodes sehen: „Den Kopf des Jochanaan!“ Die Tragödie nimmt ihren Lauf – bis zum letzten Augenblick.
Richard Strauss hat auf Anregung des Dichters Anton Lindner Oscar Wildes in französischer Sprache verfasstes Schauspiel „Salomé“ zum Musikdrama gestaltet. Er selbst schrieb das Libretto. Er griff dazu auf die (von Lindner herausgegebene) Salomé-Übersetzung von Hedwig Lachmann zurück, der wiederum die englische Übersetzung zugrundeliegt. Er ließ den Wortlaut weitgehend unverändert, nahm jedoch zahlreiche musikalisch-dramaturgisch bedingte Kürzungen und Umstellungen vor.

© Jan Windszus
Nachdem Strauss die Partitur am 20. April 1905 vollendet hatte, wurde die Oper Salome am 9. Dezember im Königlichen Opernhaus Dresden uraufgeführt. Trotz der Angriffe auf die Oper wegen ihrer die „Sittlichkeit beleidigenden“ Handlung nahm ihr Welterfolg seinen rasanten Lauf. Strauss tröstete und brüstete sich damit, sich von den Einnahmen der Salome immerhin seine prachtvolle Villa in Garmisch habe erbauen lassen können. Seither gehört seine Salome zum Kernrepertoire der Opernspielpläne und zu den Höhepunkten des Musiktheaters im zwanzigsten Jahrhundert. Zweifellos ist es eines der exponiertesten Werke von Straus, musikalisch mit einem Riesenorchestern und ungeheuren Kühnheiten aufwartend – immer noch eine radikale Herausforderung für die Aufführenden.
Die Grundfrage, die man sich stellen muss: „Ist Salome eine Femme fatale? Ein Vamp? Eine Lolita? Eine die mit den Begierden anderer spielt? Nichts von all dem“, sagt Regisseur Evgeny Titov, „das sind alles bloße Projektionen. Sehen muss man in ihr eine Ungeformte, eine Suchende ohne Ziel – bis sie Jochanaan trifft, in dessen Blick sie sich selbst entdeckt und erkennt.“ Titovs zweifellos grandiose Inszenierung ist keine psychologische Charakterstudie, keine Deutung der dunklen Seite romantischer Liebe. Titov eröffnet einen radikalen, wenn auch verstörenden und nicht immer einleuchtenden Blick auf Salome: Salome ist für ihn ein Prinzip, das Liebe als Offenbarung des eigenen Ichs – und noch vielmehr: seiner unheilvollen Abgründe begreift. „Man weiß nie selber, was man selber ist. Man braucht den anderen. Die Liebe macht, dass man zu einem Gesicht kommt, zu seinem wahren Gesicht.“ So der Regisseur im Programmheft. „Am Ende der Oper kommt Salome zu ihrem Gesicht. Sie weiß jetzt, wer sie ist.“

Das leuchtet ein, weniger dagegen, dass sie Ihre Gesichtsverdeckung, eine Art von weißem, alienhaftem Kokon oder geschlossenem Visier auch am Ende der Oper nicht lüftet. Man sieht ihr Gesicht nie, sie selbst reibt sich am Schluss der Oper, wo sie entgegen der Musik und der Ankündigung des Herodes „Man töte dieses Weib“ keineswegs getötet wird, lediglich an Stelle der Augen ihre Gesichtsbedeckung blutig. Es ist die eklatanteste Irritierung der Regie in dieser insgesamt außergewöhnlichen Inszenierung.
Auch küsst Salome entgegen ihrem eindeutigen Bekenntnis nicht den Mund des Jochanaan. „Ich habe deinen Mund geküsst, ich habe ihn geküsst, deinen Mund“ usw. Der Regisseur: „Da passiert diese Explosion, dieser Urknall, durch den Welten entstehen.“ Doch diesen Urknall erlebt man auf der Bühne nicht. Stattdessen wühlt Salome (man hat ihr gleich die ganze Leiche statt des Kopfs gegeben) in Jochanaans aufgeschlitztem blutigem Leib herum, der zur Hälfte über den Rand der Zisterne hängt, wie ein ausgeweidetes Tier, dessen Gedärm daneben liegt. Salome: „Ich bin verliebt in deinen Leib“. Der Leichnam wird schließlich auf der zunächst in die Zisterne herabfahrenden, dann in den Bühnenhimmel gezogene große Mond-Lampen-Kugel emporgezogen. Obwohl effektvoll und gruselig, ist das schwer zu verstehen.

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Mag sein, dass der Regisseur daran denkt, was Salome bekennt „Das Geheimnis der Liebe ist größer als das Geheimnis des Todes“. Titov im Programmheft: „Wir wissen nicht, wie es ist, tot zu sein. Beim Übergang vom Leben zum Nicht-Leben ist man auf einmal weg, und das ist ein unergründliches Geheimnis. Aber wir wissen, wie es ist, verliebt zu sein. Salome sagt hier, dass das Geheimnis der Liebe noch größer ist. Liebe kann wie ein Jahr im Tod sein. Und obwohl Liebe ein so offensichtlicher Prozess ist, den wir ständig erleben, können wir ihn trotzdem nicht begreifen, weil er noch krasser ist als der Tod. Das Geheimnis der Liebe ist noch größer als das größte Geheimnis.“
Evgeny Titov inszeniert zum zweiten Mal an der Komischen Oper Berlin. Nach George Enescus Œdipe, ebenfalls mit einem Bühnenbild von Rufus Didwiszus. Er hat ihm einen schlichten, geschlossenen goldene Bühnenraum gebaut, in dessen Zentrum sich die Zisterne befindet, in der Jochanaan eingesperrt ist und nackt bis auf einen Lendenschurz, asketisch, abgemagert wie ein Mönch, schlank, kahlrasiert (entgegen dem Librettotext, der von vollem schwarzem Haar spricht) und eigentlich unerotisch herauskommt. Aber was für eine Stimme! Der aus Augsburg stammende Bariton Günter Papendell (er gehört dem Ensemble der Komischen Oper an) singt und spielt den Propheten mit einer Intensität und Stimmgewalt, auch Wortverständlichkeit und Expressivität, wie man sie in dieser Partie nur selten erlebt hat. Er ist zweifellos eine der Säulen des Ensembles der Komischen Oper. Auch die Interpretin der Salome, die US-amerikanische Sopranistin Nicole Chevalier (ehemals Mitglied des Ensembles der Komischen Oper, inzwischen international gefragt und beschäftigt) ist überwältigend in Darstellung und Gesang. Mit großer, ja durchschlagender, höhensicherer und warmer Stimme liefert sie eine der besten Interpretationen der Titelfigur ab, die ich je hörte. Und ich habe viele Salome-Interpretinnen gehört. Nicole Chevalier ist eine Sensation! Aber auch die übrigen Sänger der Aufführung sind bestens besetzt: Die in Gold gewandete, in üppiger Körperlichkeit auftretende Herodias der polnischen Mezzosopranistin Karoline Gumos wartet mit ausdrucksvollem Organ auf, ihr zweifelhafter Königs-Gatte, Herodes, wird von dem vielgefragten Charaktertenor Matthias Wohlbrecht in grünem, papageienhaftem Anzug intelligent gestaltet. Wie Klytämnestra in der Elektra behängt er sich mit all den Juwelen, die er Salome verspricht. Mit der Anmutung eines Mozarttenors singt der Argentinier Agustín Gómez einen kleinen, aber feinen Narraboth. Seit der Spielzeit 2024/2025 gehört er zum Ensemble der Komischen Oper Berlin, man hat ihn schon in als Tamino, als Don Ottavio, aber auch in Offenbachs Robinson Crusoe schätzen gelernt. Mit besonders schönem Mezzosopran wartet Susan Zarrabi in der Partie des Pagen der Herodias auf. Auch die beiden Nazarener (Junoh Lee und Christoph Späth) sowie die beiden Soldaten (Philipp Meierhöfer und Andrews Harris) sind Paradebeispiele an wortverständlichem Gesang. Die fünf Juden (mit Schtrejmeln, großen Mützen aus Fell; sie werden eigentlich von neuzeitlichen chassidischen Juden getragen, die ursprünglich aus Osteuropa kommen) streiten sich lautstark und virtuos. Aber auch die restlichen Sänger, Tänzer (Choreografie Martina Borroni) und Komparsen fügte sich zu einem insgesamt stimmigen Ganzen. Die Personenführung war packend bis ins kleinste körperliche Detail. Warum aber musste der „Tanz der Sieben Schleier“, der musikalisch exorbitant zelebriert wurde, gleich von einem Dutzend Salomes im grausilbernen keusch-bodenlangen Kleid mit weißem Petticoat (bauschig-weiter, nur gelegentlich gelüfteter Unterrock aus versteiften Perlon- und Nylon-Stoffen mit rüschen- und spitzenverzierten Stufen, Kostüme von Esther Bialas) und weißer Gesichtsbedeckung ohne wirkliche Erotik, wenn auch rhythmisch furios en groupe getanzt werden?

© Jan Windszus
Auch wenn die Regie Fragen aufwirft, die musikalische Außerordentlichkeit der Produktion steht außer Frage und lässt den Abend zu einer wahren Sternstunde werden. James Gaffigan, seit Beginn der Spielzeit 2023/24 Generalmusikdirektor der Komischen Oper Berlin, hat das Stück geradezu hinreißend dirigiert, mit nie nachlassender Kraft, dramatisch spannungsvoll vom ersten bis zum letzten Takt, rhythmisch zugespitzt, präzise, flott und klangprächtig. Er lässt die Klangsinnlichkeit, die Melodik der Strauss’schen Musik, aber auch die modernen Dissonanzen gleichermaßen zu ihrem Recht kommen. Das Orchester der Komischen Oper Berlin spielt, als ginge es um sein Leben. Diese Salome ist ein Rausch, eine Ektase, ein Opernabend der Extraklasse. Chapeau!
Dieter David Scholz, 23. November 2025
Salome
Richard Strauss
Komische Oper Berlin im Schillertheater
Premiere 22. November 2025
Inszenierung: Evgeny Titov
Musikalische Leitung: James Gaffigan
Orchester der Komischen Oper Berlin