Hellerau, Konzert: „in vain“, Georg Friedrich Haas

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Nachdem sich im Österreich der 1990-er Jahre die Führungen der Österreichischen Volkspartei und die Sozialdemokratischen Partei Österreichs in einer dreizehnjährigen „Großen Koalition“ gegenseitig aufgerieben hatten, konnte der Wahlsieger SPÖ der Nationalratswahl im Oktober 1999 mangels Koalitionspartner keine Regierung bilden. So kam es im Januar des Jahres 2000 zur Bildung einer Koalitionsregierung der ÖVP mit der Europa-kritischen, rechtspopulistischen Freiheitlichen Volkspartei Österreichs. In der Europäischen Union löste das ob der Infragestellung europäischer Werte unter den Mitgliedsländern die erste veritable Krise aus und führte zu „bilateralen  Maßnahmen“ der damals weiteren vierzehn EU-Länder, zu einer begrenzten Isolation Österreichs.

Besonders dürfte den 46-jährigen Georg Friedrich Haas, nachdem er sich mühevoll von völkischen Ideologien emanzipiert hatte, schockiert haben, dass die nationalistische FPÖ, zur zweitstärksten Kraft in der österreichischen Wählergunst, wenn auch hauchdünn, wieder aufgestiegen war.

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Der Capell-Compositeur der Saison 2013/2024 Georg Friedrich Haas wurde im Jahre 1953 in einer der deutschnational- nationalsozialistischen Ideologie verhafteten Familie in Graz geboren und wurde in ein von Lieblosigkeit und Gewalt geprägtes Umfeld im Vorarlbergland gebracht. Sein Großvater, der Architekt Fritz Haas (1890-1968) war eine der Schlüsselfiguren der ohne jedes Schuldbewusstsein agierenden Grazer Altnaziszene. Er dominierte mit einer bis zu seinem Tode ausgelebten austrofaschistischen Gesinnung die Entwicklung des Jugendlichen Georg Friedrich. Auch sein Vater stützte diese Formung in dieser Parallelgesellschaft, so dass erst die Konfrontation des Studenten mit der politischen Wirklichkeit des Österreichs der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts Georg Friedrich Haas in einer regelrechten Schocktherapie zu einer eigenständig denkenden Persönlichkeit werden ließ. Seine Erinnerungen an diesen Entwicklungsprozess hatte Haas in den Jahren 2014 und 2015 niedergeschrieben. Aus diesen mit emotionaler Stärke niedergeschriebenen Texten gestalteten der Historiker Oliver Rathkolb und der Musikwissenschaftler Daniel Ender im Jahre 2022 mit dem beklemmenden Buch „Durch vergiftete Zeiten- Erinnerungen eines Nazibuben“ eine Autobiografie des Georg Friedrich Haas.

Es hat lange gedauert, ehe die Kompositionen des Georg Friedrich Haas in der breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen wurden. Mittlerweise hat er sich aber in aller Stille in der Spitzenklasse der renommiertesten lebenden Komponisten Österreichs etabliert. Schon bald empfand er die klanglichen und harmonischen Möglichkeiten der etablierten harmonischen Klangpaletten als fesselnde Beschränkungen, so dass er in seinen Werken immer wieder versucht, musikalisches Neuland zu erobern. Besonders setzt er sich mit der Mikrotonalität auseinander, wobei er mit Intervallen die kleiner als ein Halbtonabstand sind, arbeitet. Damit schafft Haas magische Klangwelten abseits der wohltemperierten Harmonien, seine Spektralmusik. Auf der Vergangenheit des Komponisten beruht auch die Dunkelheit seiner Musik. Die massiven Schuldgefühle, die er aufgrund seiner Familienherkunft empfindet, sind ihm gewichtige Motivationsquellen.

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Mit seinen Mitteln und Möglichkeiten wollte Haas deshalb beitragen, dass eine kritische Masse von 30 Prozent rechts Orientierter nicht an die Macht komme, denn danach könnten sich Situationen unaufhaltsam verändern. Mit einem radikal an der obertönigen Klanglichkeit orientierten Orchesterstück stemmte er sich mit „in vain“ gegen diese Entwicklung, legte aber mit der Titelwahl eine leise Vergeblichkeit in diese Musik, dass der perfekte Zusammenklang, geschweige denn das harmonische Zusammenleben aller Menschen jemals zu erreichen wäre. Mit der Kollision harmonischer Strukturen ließ Haas extreme mikrotonale Reibflächen entstehen, die er immer wieder in vorsichtig tastende, suchende kreisende Klangschleifen mündet, aber ohne nirgend zielgerichtet hinzuführen scheinen.

Zu unserer Freude gab uns der für die Vorbereitung der Uraufführung eines neuen Werkes im 9. Symphoniekonzert der Staatskapelle aus New York angereiste Georg Friedrich Haas selbst eine Einführung in sein Werk. Der Komponist ließ uns in seine Gedankenwelt der Zeit um das Jahr 2000 blicken und abstrahierte auf gegenwärtige Verhältnisse. Nachdem er die Generalprobe besucht hatte, konnte Haas auf wesentliche Besonderheiten der folgenden Aufführung eingehen.

Der 1969 im kalifornischen Hollywood geboren Dirigent Jonathan Stockhammer brachte am 2. Februar 2024 im „Europäischen Kulturzentrum Hellerau“ das Werk mit 24 Musikern der Sächsischen Staatskapelle zur Aufführung. Stockhammer lebt seit einem Vierteljahrhundert in Deutschland und bemüht sich, die Musik in ihrer Universalität zu erfassen. Klassisches sowie zeitgenössisches Repertoire in ungewöhnlicher Interpretation, experimentelle oder unkonventionelle Konzertformen, eigentlich alles, was verkrustete Strukturen aufbricht und neue Hörerfahrungen vermittelt, gehört zu seinem Betätigungsfeld.

Offenbar vertraute Klänge trafen vom Beginn an auf mikrotonale Systeme und formierten eine irreale Welt, die sich zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Realität und unklarer Zukunft kaum zuordnen ließ. Mehrfach glaubte man auf bekannte Melodien zu stoßen, aber nichts ließ sich greifen.

Harmonische Strukturen kollidierten auf extreme Weise und bildeten Folgen mikrotonaler Disharmonien, die ihrerseits einen Sinn zu suchen schienen. Vorsichtig, regelrecht tastend, suchten kreisende Klangschleifen vergeblich ein Ziel. Die verzerrten, verflüssigten und abdriftenden musikalischen Schönheiten sprachen das Unterbewusstsein an.

Zwei nicht unwesentliche Teile der Darbietung fanden bei völliger Abdunkelung des Konzertsaals statt. In der Dunkelheit waren die Ursprünge des Klanges kaum zu lokalisieren. Die Musiker änderten scheinbar ihre Verortung im Raum, schienen zu schweben oder spielten hinter den Hörenden.

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Die Wechselwirkungen zwischen den Instrumentalgruppen blieben in der Dunkelheit ob des fehlenden Dirigenteneinsatzes lockerer. Auch spielte eine Gruppe schneller oder wurde leiser. Das Konzert wurde zum Sinnabenteuer, als man auf das Sehen verzichten und den Ohren vertrauen musste. Die widersprüchlichen Stimmungen entwickelten sich im Dunkeln ausgeprägter. Vor allem wurden gegenläufige Emotionen zwischen Enthusiasmus und Verzweiflung bis zur absoluten Resignation ausgelöst. Die in der zweiten Dunkelphase stochastisch, für den Hörer unerwartbar eingestreuten Lichtblitze gestalteten das Hörerlebnis stellenweise regelrecht brutal.

Das Orchester bewahrte trotz der partiellen Finsternis eine erstaunliche Kommunikation und sicherte in jeder Phase der Aufführung eine glanzvolle Intensität.

Das Rückgrat der Auslegung Stockhammers der vor fast einem Vierteljahrhundert entstandenen Komposition des Georg Friedrich Haas bildeten zwar die politischen Verhältnisse des Österreichs der Jahrtausendwende. Die Interpretation erfasste aber auf beklemmend aktuelle Weise den Zustand unserer derzeitig zunehmend fragmentierten gesellschaftlichen Zeitumstände, so dass Stockhammer damit eine hochaktuelle Aufführung geschaffen hatte.

Mit frenetischem Jubel dankte das, trotz des Streiks der Nahverkehrsgesellschaft im etwas abgelegenen Hellerau nahezu vollbesetzten Auditorium, den 24 Musikern, dem Dirigenten und vor allem dem Komponisten.

Thomas Thielemann, 3. Februar 2024


Georg Friedrich Haas:
„in vain“ für 24 Instrumente

Europäisches Zentrum der Künste Hellerau
Sonderkonzert des Capell-Compositeur der Sächsischen Staatskapelle Dresden

2. Februar 2024

Dirigent: Jonathan Stockhammer
Musiker der Sächsischen Staatskapelle Dresden