Eigentlich hätten Martha Argerich, Janine Jansen und Mischa Maisky auch eine zeitgenössische Vertonung des Kieler Telefonbuches präsentieren können – die treue und seit Jahrzehnten begeisterte Fangemeinde wäre ohnehin gekommen. Zu der gesellte sich am Abend eines sommerstürmischen Tages die Zahl derer, die sich von solch glanzvollen Namen in die Kieler Petrus-Kirche locken ließen. Das Konzert war eines von vieren, die Maisky sich, seinen großartigen Kolleginnen und Kollegen und dem SHMF-Publikum zum 75. Geburtstag schenkt. Respektive des Anlasses war das Kammerkonzert am 4. Juli von der Terzett-Besetzung eher ein bescheidenes Geburtstags-Packerl, aber der ausgepackte Inhalt hatte es in sich. Die Auswahl des Programms war ausgesprochen vielseitig, denn von der Wiener Klassik mit Beethoven und Haydn ging es zur Romantik Schumanns und schließlich zur existentialistischen Kantigkeit Schostakowitschs. Das Programm war während der Probenzeit zweimal geändert worden, denn ursprünglich sollte anstatt Beethoven und Haydn Tschaikowskys Klaviertrio a-moll op. 50 erklingen, dann stand Mendelssohns Trio op. 49 als Abschluß im bereits gedruckten Heft. Aber man wird Festival-Intendant Christian Kuhnt von Herzen rechtgeben, der in seiner launigen Begrüßung meinte, „die hätten sowieso machen können, was sie wollen!“
Mit Martha Argerich musiziert Maisky nun schon mehr als 45 Jahre; die jahrzehntelange Verbundenheit spiegelt sich im organischen Miteinander des gemeinsamen Spiels. Janine Jansen als Portraitkünstlerin des Jahres 2019 ist dem-Publikum noch in bester Erinnerung und so ist dieses Dreigestirn geradezu ein Sinnbild für das hohe musikalische Niveau dieses Festivals, das seit Jahrzehnten internationale Beachtung findet.
Ludwig van Beethovens zweite Sonate für Violoncello und Klavier g-Moll op. 5,2 steht, wenngleich 1796 in Berlin entstanden, klangsprachlich doch ganz im Zeichen der Wiener Klassik. Zwar bestritt Beethoven, von seinem Lehrer Haydn überhaupt etwas gelernt zu haben, aber gerade der Vergleich mit dessen Klaviertrio Nr. 39 G-Dur Hob. 15/25 – nur ein Jahr älter als das Beethovens! – eröffnet doch sehr deutlich, wie „Papa Haydn“ auch diesen Zögling geprägt hat. Geradeaus aus den typischen, spätrokokohaften Verzierungen spricht auch bei Beethoven noch die Verhaftung in der klassischen Diktion. Außerdem verbindet die beiden die Gabe, aus einfachen, ja naiven Themen die ganz hohe Kunst zu machen.
Argerich und Maisky sind von Beginn an eine organisch funktionierende Einheit; sie sieht nur manchmal zu ihm herüber und er scheint ganz den unsichtbaren Fäden der Kommunikation zwischen ihnen zu vertrauen – Maisky hört und spürt, was andere erst sehen müßten. Er spielt diese Musik mit warmem Ton, in den sich Argerichs sanfter Anschlag schmiegt. Allerdings schwenken die beiden sofort in einen entschiedenen Ausdruck um, wenn es die musikalische Linie erfordert. Mit hoher Konzentration begegnen Cellist und Pianistin dem Ernst der Sonate, um ebenso hingebungsvoll die lyrisch-leidenschaftlichen Passagen zu würdigen und zwischendrin ganz luftig-leicht die Transparenz, die auch in diesem Stück lebt, spürbar zu machen. Als sei es himmlisch so vorgesehen, dringt dazu die Abendsonne durch die Buntglasscheiben der Petrus-Kirche. Bereits nach diesem Eröffnungsstück brandet begeisterter Beifall auf – die beiden müssen mehrfach wieder auf die Bühne.
Janine Jansen gesellt sich nun für den Haydn dazu und gibt sich ganz ihrem expressiven Spiel hin; wenngleich sie sitzt, wiegt sich doch ihr Oberkörper hin und her, ihre Mimik ist ein Spiegel der Partitur. Das ist alles andere als Pose und es wirkt liebenswert, wie sie mal die Augen zusammenkneift, dann wieder weit aufreißt, als erschräke sie vor dem, was sie in den Noten erkennt. Sie durchlebt jeden Ton mit aller Intensität und trotz der zuweilen angestrengt wirkenden Gesichtszüge entfliehen ihr leicht und klar die Töne, die sie mit feinem und exaktem Strich zeichnet. Das bekannte Klaviertrio Nr. 39 ist eines der Haydn´schen Werke, die, dem Zeitgeist entsprechend, die volkstümlichen ungarischen Weisen artifiziell rezipieren und in ganz eigenem Ton mit den modifizierten Themen spielen. Da ist es egal, daß er das Stück in London schrieb; Haydn blieb auch an der kühlen Themse der Musikkultur der k. u. k. Doppelmonarchie treu.
Die drei meistern das Stück mit aller leichtfüßiger Rasanz und kunstvollen Abbremsungen des Tempos; es ist eine wahre Freude, diese Musiker in ihrer Unterschiedlichkeit zu beobachten: Martha Argerich mit stoischem Ernst und würdevoller Zurückhaltung, Mischa Maisky gelassen, aber konzentriert versunken und Janine Jansen mit ihrem ausdrucksvollen Habitus, der zu verraten scheint, daß ihr das alles noch nicht genug ist, was sie der Violine entlockt. Und sie bilden doch musikalisch eine vollkommene Einheit! Bei aller Leichtigkeit der Haydn´schen Tonsprache sind unter den schimmernden Perlen der raschen Klavierläufe doch auch solche mit kantig facettiertem Schliff aus dunklem Ebenholz wahrzunehmen, die ein mögliches Sich-Verlieren in der blanken Heiterkeit vermeiden. Martha Argerich moduliert das mit größter Raffinesse und Sensibilität für die ganz feinen Nuancen. Vor der Pause gibt es wieder großen, verdienten Beifall für das Trio. Die Kieler Petrus-Kirche ist im Übrigen hervorragend geeignet für solch eine Besetzung; die Akustik lebt von der ausgewogenen Architektur aus Holz und Stein, was den Hall begrenzt und einen warmen Klang gewährt.
Robert Schumanns Phantasiestücke für Violoncello (eigentlich Klarinette) und Klavier op. 73 sind beispielhaft für eine Zurückgezogenheit in die kleine Form und vermeintliche biedermeierliche Beschaulichkeit. „Vermeintlich“ deswegen, weil auch aus diesen Stücken all das spricht, was Schumann im innerlich und äußerlich aufregenden Jahr 1849, in dem die Komposition entstand, umgetrieben hat. Die politischen Verhältnisse im „Nach-48er-Jahr“ haben sich in Schumanns angegriffener Psyche niedergeschlagen, das Komponieren bedeutete für ihn Erholung und das Auffüllen leergelaufener Energieressourcen.
Das oft gehörte Stück interpretiert Maisky in seinem einzigartigen „Erzählton“ mit den winzigen Verzögerungen und angedeuteten Kunstpausen, um die folgenden Tonfolgen wiederum rascher zu gestalten; es ist, als läse er einen tausendmal gehörten Text so vor, als ob es das erste Mal sei; bei den Zuhörern stellt sich der Eindruck ein, etwas nie zuvor Gehörtes zu vernehmen. Das Finale der „Phantasiestücke“ trägt die Satzbezeichnung „Rasch und mit Feuer“, was bei Argerich und Maisky eher zu einem „con espressione energico“ gerät. Das ist alles andere als Biedermeier!
Um ehrlich zu sein – das seelenzerreißende Schostakowitsch-Trio hätte schon den Besuch des phantastischen Konzerts gelohnt. Allein das Entstehungsjahr 1944 läßt ahnen, daß Schostakowitschs Arbeit an seinem Klaviertrio e-Moll op. 67 von Angst und Härte gezeichnet war. Dazu kam die Trauer um seinen im Februar des Jahres gestorbenen Freund Iwan Sollertinski, der für ihn von zentraler Bedeutung war, denn dieser war es, der aus seiner systemkritischen Haltung heraus seinen engsten Freund zu einer eigenen Musiksprache ermutigte und sein Schaffen intensiv förderte. Sollertinski war der erste, der sich in der Sowjetunion für Gustav Mahlers Werk einsetzte, das auch Schostakowitsch so sehr liebte. „Wir werden ihn nie wiedersehen. Es fehlen die Worte, um den großen Schmerz auszudrücken, der mein ganzes Wesen quält“, schrieb Schostakowitsch an einen gemeinsamen Freund. Was Worte nicht vermögen, erreicht die Musik und so spricht aus diesem Stück ein für Schostakowitsch typisches Gemenge aus Trauermusik und Mahler´schen Brüchen, eine Farce aus aufgesetzter Fröhlichkeit und dem Zurückgeworfen Sein in die Abgründe einer ohnehin schon durch den Stalin-Terror angegriffenen Seele, die einen ihrer wichtigsten Verbündeten verloren hat.
Das Cello beginnt das Andante mit leisem klagendem Ton; die Geige und, etwas versetzt, das Klavier stimmen in den Trauergesang ein. Es ist ein ohnmächtiger Schmerz, der hier nach außen dringt, und der nicht auf Trost zu hoffen wagt. Das kraftlose Weinen wandelt sich zur nervösen Verzweiflung und dem Aufbegehren gegen den Tod. Wenige trotzige Passagen dringen durch das lastende Gewebe der Trauer, aber es ist sinnlos, sich gegen das Unabwendbare zu wehren. Schostakowitsch hat in diesem, aber auch den Folgesätzen alles gefordert, was Violine und Cello an Klangmöglichkeiten herauszubringen vermögen, vom Pizzicato über das Spiccato bis zum Flageolett – Jansen und Maisky lassen ihre Instrumente die grauen, schwarzen und blutroten Farben der tiefen Trauer aufs Beklommenste in den Raum malen. Ein volksmusikalisches Zitat wirkt wie Hohn angesichts der Verwundung. Im Folgesatz, dem Allegro con brio, tritt wieder eine trotzige Haltung zutage, Cello und Violine treten in einen Dialog, das Klavier gibt eine dynamische Bewegung vor. Die erneute, fratzenhaft wirkende Fröhlichkeit wird zum verzweifelten Übermut, ja zur Tollheit im tieferen Sinne.
Gnadenlos knallt das Largo den in Bann geschlagenen Zuhörern die Härte des Verlusts hin – Martha Argerich läßt die Akkorde wie Glockenschläge auf dem deprimierenden Weg zum Grab hin drohen. Janine Jansens Geige weint herzzerreißend, Maiskys Cello nimmt Anteil und wächst in seiner weichen Wärme in den Gestus einer Umarmung, während das Klavier schonungslos den endgültigen Weg weiterführt. Ein gemeinsames Aufschluchzen wird durch kurzes Innehalten unterbrochen, in fast hysterischer Hetze entsteht das Zerrbild eines Scheinlebendigen. Blutige Striemen auf der Seele hinterläßt das abschließende Allegretto mit seinem hart gestrichenen Zingarese-Thema, die gespenstische Verzerrung einer volksliedhaften Melodie. Dieser Satz gehört sicher zum Schmerzlichsten und Eindrücklichsten, was Schostakowitsch jemals geschrieben hat und es offenbart einen Blick in seine Seele, als hätte er die schützende Hülle darüber mit Klemmen auseinandergespreizt. In den Dissonanzen schreien Violine und Cello ihre Verletzung heraus, bis sie sich in hoffnungsvolleren Wendungen versuchen. Aber das kann nicht über die existentielle Erkenntnis hinwegtäuschen, daß da ein Leben zu Ende ist, unwiederbringlich.
Janine Jansens Gesicht spiegelt das blanke Entsetzen über das wider, was sie da spielt und Mischa Maisky ist sichtlich mitgenommen, ja aufgewühlt; zwei-dreimal stampft er mit dem Fuß auf. Martha Argerich thront in fahlem Ernst dahinter, kaum ihre Mimik, dafür aber umso mehr formt ihr Spiel die ganze Tragik und Erschütterung dieser Musik. Ein abschließendes Mahnen läßt an einen Choral denken, mit dessen ernster, nüchterner Erkenntnis auch der eigenen Endlichkeit dies Buch zugeschlagen wird.
Sprachlosigkeit herrscht im Publikum, dann erheben sich ausnahmslos alle innerhalb von Sekunden von den Kirchenbänken und brechen in tosenden Beifall aus. Immer wieder nehmen die drei phantastischen Musiker den dankbaren Applaus entgegen, bis sie mit dem Scherzo aus dem ausgefallenen Mendelssohn-Trio dem Abend einen leichten, optimistischen Ausgang schenken.
Im persönlichen Gespräch nach dem Konzert entfährt es Intendant Kuhnt: „Dieser Abend schreibt Festival-Geschichte!“ Recht hat er.
Andreas Ströbl, 6. Juli 2023
Petruskirche Kiel
4. Juli 2023
Ludwig van Beethoven: Sonate für Violoncello und Klavier Nr. 2 g-Moll op. 5, 2
Joseph Haydn: Klaviertrio Nr. 39 G-Dur Hob. 15/25 „all’Ongarese“
Robert Schumann: Phantasiestücke für Violoncello und Klavier op. 73
Dmitri Schostakowitsch: Klaviertrio e-Moll op. 67
Klavier: Martha Argerich
Violine: Janine Jansen
Violoncello: Mischa Maisky