München: „Wozzeck“ (konzertant), BR-Symphonieorchester unter Simon Rattle

Am 14. Dezember 2025 jährt sich die Uraufführung von Alban Bergs Oper Wozzeck zum einhundertsten Mal. Schon 1925 ahnten Kritiker und Musiker, es handle sich womöglich um die bedeutendste Oper des 20. Jahrhunderts. Heute, ein Jahrhundert später, ist klar: Auch wenn sich Puccinis Turandot oder Strauss’ Rosenkavalier weitaus größerer Beliebtheit erfreuen mögen – Wozzeck ist in seiner musikhistorischen Signifikanz unangefochten. Als Schlüsselwerk der Moderne ist der Wozzeck das, was Wagners Tristan und Isolde zuvor für die Romantik gewesen ist. Kein Komponist des 20. Jahrhunderts blieb von Bergs Meisterwerk unbeeinflusst. Ohne Wozzeck wäre die Entwicklung der zeitgenössischen Musik bis hin zur Gegenwart eine andere gewesen.

Da die Bayerische Staatsoper ihr Stammhaus, das Nationaltheater München, aktuell wegen Renovierungsarbeiten geschlossen hält und auf Asien-Tournee verweilt, nutzen das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, das BRSO, und ihr Chefdirigent Sir Simon Rattle die Gelegenheit einer opernreduzierten Stadt, das Wozzeck-Jubiläum als festlichen Saisonauftakt vorwegzunehmen: Mit drei konzertanten Aufführungen und dem Ausnahmesänger Christian Gerhaher in der Titelrolle zeigten sie in der Isarphilharmonie München rund um das verlängerte Wochenende zum Tag der Deutschen Einheit, wie stark diese Partitur mit ihrer Geschichte rund um den gedemütigten Soldaten Franz und seiner Geliebten Marie das Publikum auch ohne szenische Realisierung erschüttert.

 © BR – Astrid Ackermann

Wozzeck ist bis heute die einzige atonale Oper, die dauerhaft im Repertoire präsent ist. Und dennoch sind musikalisch überzeugende Aufführungen rar. Die komplexe Partitur erfordert eine so intensive und umfangreiche Probenarbeit, wie sie im hektischen Opernbetrieb kaum leistbar ist. Das BRSO nahm sich deshalb für die Einstudierung über eine Woche Zeit – mit einem Ergebnis, welches sich hören lassen konnte. Während Alban Bergs Oper andernorts unzugänglich oder sperrig wirken mag, verstand es Sir Simon Rattle als leidenschaftlicher Verfechter der Zweiten Wiener Schule genau, wie man Wozzeck zu interpretieren hat. In fein austarierter Klangarchitektur arbeitete er besonders mit den Farben seines Orchesters und ließ immer wieder Anklänge an Debussy oder Mahler durchschimmern. Die verstörend, harschen atonalen Effekte setzte er dosiert und bewusst ein – etwa in den Zwischenspielen, in denen er das BRSO zu eruptiver, markerschütternder Intensität aufbäumen ließ. Gerade durch diese gezielte Zuspitzung wurden solche Passagen umso intensiver erlebbar. Rattle schuf eine Atonalität, die nicht abschreckte, sondern – verwandelt in Expressivität und Ausdruck – das Publikum berührte und aufwühlte.

Die Partie des Wozzeck gilt spätestens seit der Homoki-Produktion in Zürich als Paraderolle des Bariton Christian Gerhaher. Sein Wozzeck ist ein eigenes, unnachahmliches Kunstwerk für sich. Als der maßgebende Liedsänger der Gegenwart hat sich Gerhaher einen sehr intellektuellen, kalkulierten und kultivierten Zugang zu der Figur erarbeitet. Er gestaltet und interpretiert jede Silbe des Librettos mit eigener Klangfarbe und in absoluter Perfektion und lässt so seine Figur sich peu à peu und ganz kontrolliert in den Wahnsinn steigern.

Die Schwedin Malin Byström verkörperte mit schlank geführter Sopranstimme und vokaler Sicherheit in sämtlichen Registern bei außerordentlicher Textverständlichkeit die Partie der Marie. Besonders eindrucksvoll geriet ihr Ausdruck im Antimärchen mit zittriger wie berührender Deklamation: „Es war einmal ein armes Kind und hatt‘ keinen Vater und keine Mutter“. Byströms Marie war eine in Hoffnungslosigkeit und Einsamkeit versunkene Persönlichkeit, welche glaubhaft die Komplexität und Zwänge der Figur vermittelte.

Obwohl viele die der Titelfigur des Wozzecks umgebenden Partien nicht mit deutschen Muttersprachlern besetzt wurden, beeindruckten sie allesamt durch präzise Artikulation und gestalterische Klarheit – ohne jemals in Karikatur oder Überzeichnung ihrer Partien zu verfallen: Eric Cutler (Tambourmajor), Brindley Sherratt (Doktor), Nicky Spence (Hauptmann/Narr), Edgaras Montvidas (Andres), Rinat Shaham (Margret) und Ludwig Mittelhammer (Zweiter Handwerksbursch). Besonders hervorzuheben ist HK Gruber, selbst Komponist zeitgenössischer Werke, welcher in der Sprechrolle des Ersten Handwerksburschen in fesselnder Deklamation demonstrierte, wie durch meisterhaften Sprechgesang selbst die kleinsten Figuren Alban Bergs mit Leben gefüllt werden können.

 © BR – Astrid Ackermann

Besonders gelungene Konzertaufführungen des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks werden nicht bloß im Radio oder Stream übertragen, sondern in einer Nachbearbeitung im BR-Klassik Label auf CD veröffentlicht. Auch dieser Münchner Wozzeck böte das Potenzial, sich in die Reihe legendärer Einspielungen – etwa von Karl Böhm oder Pierre Boulez – einzureihen. Ein Wozzeck für das 21. Jahrhundert eben, mit einem unnachahmlichen Christian Gerhaher in der Titelrolle und dem genialen Sir Simon Rattle am Pult des BRSO.

Phillip Richter, 10. Oktober 2025

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Wozzeck
Konzertante Aufführung

Isarphilharmonie Gasteig, München

Rezension der Vorstellung vom 2. Oktober 2025

Sir Simon Rattle 
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks