Nach unserem heutigen Bild wurde das musikalische Leben des Dresdens der 1840-er Jahre von zwei Mehrfachbegabungen bestimmt. Beide waren vor allem noch mit ihren „Brotberufen“ befasst, so dass sie nur nebenbei komponierten, obwohl wir sie inzwischen vor allem ob ihres kompositorischen Schaffens wahrnehmen. Während der Hofkapellmeister Richard Wagner (1813-1883) mit seiner Frau Minna in der Ostra-Allee lebte und von 1841 bis 1843 am „Tannhäuser“ und vorwiegend in den Theaterferien der Jahre 1845 bis 1848 am „Lohengrin“ arbeitete, textete und komponierte der Musikzeitungsredakteur Robert Schumann (1810-1856) in der wenige Gangminuten entfernten Reitbahnstraße in den Jahren 1847 bis 1848 an seiner Oper „Genoveva“. Obwohl beide sich auf Carl Maria von Weber (1786-1826) beriefen, ihre Musiktheaterwerke durchkomponierten, sich der Leitmotivtechnik bedienten und auch ansonsten neue Wege im Opernbetrieb anstrebten, gab es zwischen ihnen nur wenig Gedankenaustausch. Während sich Wagner vorwiegend in der Theaterszene der Stadt bewegte und viel politisierte, dominierte das Ehepaar Schumann die Kammermusik-Aktivitäten der Dresdner Bürgergesellschaft.
Fast fünfzig Konzepte der unterschiedlichsten Sujets, unter anderem von Goethe (1749-1832), Hoffmann von Fallersleben (1798-1874) sowie Eduard Mörike (1804-1875) soll Robert Schumann über Jahre hinweg abgewogen und wieder verworfen haben. Im Frühjahr 1847 entschied er sich endlich für die „Legende der heiligen Genoveva von Brabant“, einem Ereignis, das sich in den Jahren 732 bis 739 in der Gegend um Trier zugetragen haben soll. Ihm schwebte eine Synthese aus einer romantischen Deutschen Oper mit einer französischen Grand Opera vor. Eine „Deutsche Nationaloper“ sollte es werden. Zur Entstehung der Textvorlage der Oper gibt es noch immer vielfältige Unklarheiten. Unbestritten ist, dass Friedrich Hebbels (1813—1863) Tragödie „Genoveva“ von 1843 und Ludwig Tiecks (1773-1853) Trauerspiel „Leben und Tod der heiligen Genoveva“ des Jahres 1799 als Quellen dienten. Vermutlich bat Schumann, seinen poetisch begabten Freund und Maler Robert Reinick (1805-1852) die Erarbeitung des Librettos vorzunehmen. Der mit Hebbels Handlungsführung und Tiecks Legendencharakter gestaltete Entwurf behagte Schumann nicht und er versuchte, Hebbel für die Erarbeitung des Librettos zu gewinnen. Aber außer einem Briefwechsel und Hebbels Kurzbesuch bei den Schumanns bei seiner Durchreise im Juni 1847, gab es keine Zusammenarbeit. Hebbel hatte bei seinem Besuch einen „verstockten Schweiger“, der um seinen kurz vorher verstorbenen Sohn Emil trauerte, angetroffen.
Ob Schumanns Idee mit „Margarethas Zauberspiegel“, sein Wunsch nach einer biedermeierlich-spießigen Ehebefriedung oder die Verschiebung der Konturen vom Opfer zum Täter zum Zerwürfnis mit Reinick führten, ist nicht belegt. Letztlich schuf Schumann in der Folge einen Text, der eigentlich an Banalitäten kaum zu überbieten ist. Bei den Katastrophen der duldenden Pfalzgräfin kann man nicht ansatzweise mitfiebern. Schumann verwendete aber immerhin etwa 200 Verse Reinicks, sowie auch Textbestandteile Hebbels.
Die Musik schrieb Robert Schumann mit der ihm eigenen Rastlosigkeit in der Zeit vom zweiten Weihnachtsfeiertag des Jahres 1847 bis zur Jahresmitte 1848, nicht ohne in dieser Zeit mehrere Nervenzusammenbrüche überwinden zu müssen. War das Libretto der Oper bei dem in seinen Liedern ansonsten so sprachlich empfindlichen Schumann fragwürdig, so kam bei der kompositorischen Gestaltung der Chormusiker durch. Trotzdem sollte man der „Genoveva“ ihre Daseinsberechtigung nicht absprechen. Dem Werk mit seiner surrealen Kombination aus Oper und Oratorium fehlt der theatralische Realismus, die musikalische Charakterisierung der Protagonisten. Der von Schumann konzipierte „neue Opernstil“ konnte sich weder zu seiner Zeit, noch heute auf der Opernbühne etablieren. Die Musik bekam in der „Genoveva“ eine höhere Bedeutung als die dramatische Handlung. Mit seinem Talent zur musikalischen Seelenmalerei der Geschichte um die Gräfin von Brabant, die durch Standhaftigkeit ihr Leben, ihre Ehe und ihre Ehre rettete, hat uns Schumann eine faszinierende Fundgrube wunderbarer Musik hinterlassen.
Deshalb war verdienstvoll, dass die „Dresdner Musikfestspiele 2023“ das „Helsinki Barockorchester“, seinen künstlerischen Leiter Aapo Häkkinen mit einer Gruppe hervorragender Sänger sowie den von Erwin Ortner geleiteten Wiener Arnold –Schönberg-Chor zu einer halbszenischen Aufführung der Rarität in den Kulturpalast eingeladen hatte. Mit ihrer Darbietung konnten die Gastmusiker alles das bestätigen, was wir am Symphoniker Robert Schumann, aber auch am Lieder- und Oratoriums Komponisten schätzen und lieben.
Was geschieht: Die tugendhafte Titelheldin, die Gattin des Pfalzgrafen Siegfried, wiedersteht den Verführungsversuchen des hoffnungslos verliebten Statthalters Golo. Mit Unterstützung der Hexe Margaretha wird Genoveva dennoch der Untreue bezichtigt und soll deshalb sterben. Erst im letzten Moment kommt die Wahrheit ans Licht.
Mit seinem Dirigat am Pult des Helsinki-Barockorchesters schärfte Aapo Häkkinen die Kontraste, die Brüche und Abgründe einer Partitur, die voller schöner Melodien steckt. Mit packender Intensität spielte das Orchester die grellen Dissonanzen und extremen Stimmführungen mit ihrer kühnen Instrumentation. Schwärmerische Heiterkeit und eitel Freude wäre bei Schumann ohnehin fehl am Platze, wenn der Blick auf das Inneren der handelnden Personen gerichtet ist. Mit seinen Instrumenten des 19. Jahrhunderts, die nicht über die Durchschlagskraft moderner Klangwerkzeuge verfügen, entfaltete das Orchester ein inspirierendes musikalisches Kaleidoskop und brachte uns mit seinem Klangbild einen ungewohnten Robert Schumann nahe.
Die beeindruckende Wirkung der Aufführung wurde durch den tadellos von Erwin Ortner vorbereiten Arnold Schönberg Chor gestützt. Seine Sänger, mit mittelalterlichen Kopfbedeckungen ausgerüstet, hatten mehrere Auftritte als Jubelstatisterie, feierndes Gesinde und empörte Moralisten. Konzentriert folgten die Solisten den besonderen Anforderungen dieser außergewöhnlichen Aufführung. Abgestuft kostümiert, stellten sie ihre Darbietungen in kleinen Szenen, aber ziemlich steif dar.
Die US-amerikanische Sopranistin Carolyn Sampson sang die Titelheldin mit eigenartig reservierter Leidensintensität, erfasste beklemmend die Zwischentöne und konnte in den liedhaft-schlichten Melodien Klarheit, in lyrischen Momenten anrührende Innigkeit und wo nötig strahlende Leuchtkraft bieten. Glaubwürdig wirkte ihr zerbrechlicher Sopran und ihre sparsame Gestik, mit der sie die schicksalhaft verlorene Frau präsentierte, die von der Männerwelt verachtet und um deren Moralvorstellungen und Egomanie willen fast geopfert wurde, dabei aber innerlich bereits gestorben war. Die sogar von ihrem Schöpfer Schumann im Stich gelassene Schönheit steigerte sich in eine Schicksalsergebenheit.
Der gescheiterte Verführer und Verräter Golo, von Marcel Beekman mit edler Tenorstimme gesungen, beeindruckte mit seinem Gespür für Dramatik und Stimmungswechsel. Sein andächtiges Begehren, die innere Zerrissenheit der Figur schlug bei der Abfuhr durch die schöne Seele in Hass um. Der Gesang Marcel Beekmans verfügt über eine warme und sensible Tongebung, leuchtenden Klang sowie ausdrucksstarke, differenzierte Schattierungen und Farben.
Die Stimme des aus Norwegen stammenden Baritons Johannes Weisser als Pfalzgraf Siegfried hat dramatisches Feuer. Sein Gesang konnte sich machtvoll erheben, aber auch seidig glänzen. Sein Siegfried war durchaus angetan von der seine Kriegswunden pflegenden Margaretha und ließ sich willig auf ihre Intrigen ein. Fragwürdig blieb es, dass man weder beim mit elegischem Schmelz singenden Golo noch bei dem lyrischen Heroismus des Siegfrieds die von Kirche und Gesellschaft kultivierte Frauenverächtlichkeit heraushörte. Das großartige Trio wurde durch die zwielichtige Amme Margaretha der Marie Seidler stimmlich furios und boshaft dunkel ergänzt. Die junge Mezzosopranistin glänzte mit einem volltönigen Stimmenumfang von zweieinhalb Oktaven mit kraftvoller Tiefe und klarem Timbre.
Geradezu leuchtend sang der frühere Kruzianer und jetzige Bassist Cornelius Ihle den Haushofmeister und vermeintlichen Ehebrecher und Verführer Drago. Als Bauernopfer der Intrige konnte er als Stimme aus dem Jenseits die S achlage klären und damit Genoveva retten.Der präsente ungarische Bassist Marcell Attila Krokovay als Diener Bathasar und der Diener Caspar des Baritons Zacharias Galaviz Guerra boten auf hohem Niveau ein beklemmendes Duo von Schergen und Folterknechten. Den Aufmerksamkeit einfordernden stimmgewaltigen Bischof von Trier verkörperte der aus Kiel stammende Bassist Yorck Felix Speer.
Der dramaturgisch durchdachte Einsatz von Video-Technik verstärkte den Eindruck des Konzertes. Schumanns Einführung des Zauberspiegels nutzte die finnische Opernregisseurin Kristiina Helin, um eine andere Form poetischer Realität darzustellen. Mit ihrem visuellen Konzept gestaltete Helin sowohl eine Kulisse, als auch bewegte Landschaft oder Reflexionen von Befindlichkeiten der Titelfigur. Mit den vom Künstler-Duo IC-98 Patrick Söderlund und Visa Suonpää eingerichteten Video-Animationen schuf sie eine beeindruckende Parallele zu Schumanns raffiniertem Leitmotivgeflecht.
Es wurde berichtet, dass Schumann sein Libretto Richard Wagner gezeigt habe, der ihm eine gründliche Überarbeitung anempfohlen haben soll. Leider war aber der halsstarrige Komponist der Empfehlung des bereits Erfahreneren nicht gefolgt.
Thomas Thielemann 6. Juni 2023
4. Juni 2023
Konzertsaal des Kulturpalastes Dresden
Robert Schumann-„Genoveva“-halbszenisch
Konzept: Kriistina Helin
Arnold-Schönberg-Chor
Leitung: Erwin Ortner
Helsinki Baroque Orchestra
Dirigent: Aapo Häkkinen
Video-Animationen: IC-98