Um es kurz vorweg zu nehmen: Bei der Premiere dieser zeitgenössischen Oper am Schleswig-Holsteinischen Landestheater in Flensburg stimmte einfach alles. Auch wenn die im Jahre 2000 an der San Francisco Opera als meistgespielte zeitgenössische Oper gilt und weltweit bereits in mehr als 70 Produktionen zu sehen gewesen ist, war es wohl für fast jeden im gut gefüllten Zuschauerraum die erste Begegnung mit diesem Werk, dessen Ausgang von vornherein klar ist: die Hinrichtung des Angeklagten.
In der Oper werden, wie im gleichnamigen Film zwei Täter aus der Autobiographie von Sister Helen Prejean zu einer einzigen Figur vermischt. Im Gegensatz zur Verfilmung wird dem zweifelsfrei als Mörder verurteilten Joseph de Rocher auf der Opernbühne durch Sister Helen unmittelbar vor seiner Exekution ein Geständnis und ein Anklang von Reue entlockt.
Jake Heggie bringt in seiner Musik vor allem die inneren Konflikte der Figuren zum Ausdruck. Die grundsätzlich tiefere Stimmlage von Schwester Helen spiegelt ihre Direktheit und Bodenständigkeit wider, während ihre Ausbrüche in höhere Register ihren Idealismus betonen. Joseph De Rocher wird anfangs durch abgehackte, kurze Phrasen musikalisch als verschlossener Krimineller charakterisiert. Im Verlauf des Stücks verändert sich sein Klang jedoch: Er wird weicher, melodischer und offenbart zunehmend seine Ängste und Verletzlichkeit.
Doch die Musik dient nicht nur als psychologische Charakterstudie. Heggie erzeugt immer wieder eine eindrucksvolle Atmosphäre, indem er Elemente verschiedener Musikgenres integriert. So lässt er etwa Rock’n’Roll-Anklänge im Stil von Elvis Presley einfließen oder nutzt einen leitmotivischen Gospel, der sich durch die gesamte Oper zieht und je nach Kontext eine ganz unterschiedliche Wirkung entfaltet. Zu Beginn erklingt er als fröhliche Hymne, gesungen von einem Kinderchor, während er am Ende der Oper, wenn Schwester Helen ihn a cappella intoniert, eine melancholische, nachdenkliche Note erhält.
Die Inszenierung von Felix Seiler erzählt im Bühnenbild von Nikolaus Webern und den Kostümen von Sarah Rolke einerseits eindringlich nachvollziehbar die Geschichte von der Vergewaltigung und dem Mord bis hin zur Hinrichtung des Täters, aber lasst vor allem Raum für große Emotionen und verdeutlicht auch immer wieder die Beziehung der einzelnen Personen zueinander. Ihm gelingt eine schlüssige und fesselnde Version des schweren Stoffes, der vor Allem unterschiedliche Blickwinkel auf die Todesstrafe und auch Schuld und Sühne im weiteren Sinne auslotet. Die Mutter des Verurteilten hält bedingungslos zu ihrem Sohn, die Eltern der Opfer haben selbstverständlich eine konträre Auffassung. Die Nonne Sister Helen begleitet den Verurteilten in seinen letzten Momenten und argumentiert aus Überzeugung gegen die Todesstrafe. Damit wendet sie sich gleichzeitig gegen die Hinterbliebenen der Opfer, die – emotional absolut nachvollziehbar – der Auffassung sind, man könne nicht beide Seiten verstehen und unterstützen, sondern habe entweder Mitgefühl für die Hinterbliebenen oder Sympathien für den Täter. Da Joseph De Rocher erst in den allerletzten Minuten vor seiner Hinrichtung seine Tat überhaupt gesteht, ist und bleibt die Frage nach einer angemessenen Strafe offen. Im tristen Gefängnis suggeriert ein Cola-Automat das einzige Fünkchen Wärme und Normalität.
Vera Semieniuk als Sister Helen Prejean ist ein wahres Phänomen, da sie vokal von zarten mitleidigen Tönen bis hin zu extremen emotionalen Ausbrüchen die ganze Palette an Ausdrucksformen beherrscht, nie Probleme zu haben scheint, über das Orchester zu tönen und auch darstellerisch eine große Wandlung vollzieht. Philipp Franke steht seiner exzellenten Kollegin in nichts nach und überzeugt ebenfalls stimmlich als auch darstellerisch auf ganzer Linie. Mit dramatischem Aplomb berührt Itziar Lesaka als verzweifelte Mutter des Verurteilten. Mikołaj Bońkowski verdeutlicht als Prison Guard (ebenfalls als George Benton besetzt), dass der Tod in dieser Art von Gefängnis zum Tagesgeschäft gehört und lässt mit seinem sonoren Bass-Bariton aufhorchen. Kai-Moritz von Blanckenburg ist immer für ein Highlight gut, und serviert dem Premierenpublikum als Motorcycle Cop und als Owen Hart gleich zwei davon. Małgorzata Rocławska als Sister Rose, Anna Grycan als Jade Boucher, Christian Alexander Müller als Father Grenville, Ruth Müller als Kitty Hart, Dritan Angoni als Howard Boucher und Anna Avdalyan als Sister Catherine und Sister Lillianne liefern allesamt überzeugende Rollenportraits ab.
Martynas Stakionis sorgt nicht nur für die reibungslose Koordination der Solisten und des großen Chores nebst Kinderchor und dem konzentriert aufspielenden Schleswig Holsteinischen Sinfonieorchesters, sondern hält den ganzen dreistündigen Opernabend die Spannung aufrecht und sorgt für fein abgestimmte instrumentale Wonnen. Der von Avishay Shalom einstudierte Chor trägt ein Übriges dazu bei.
Am Ende dieses intensiven Opernabends gibt es nicht nur lang anhaltenden Applaus, sondern auch lautstarken Jubel für alle Beteiligten. Die Inszenierung zeigt eindrucksvoll die Zerrissenheit zwischen Schuld, Reue und Vergebung und lässt Raum für Reflexion über das Thema der Todesstrafe, das bis heute kontrovers diskutiert wird. Musikalisch wie darstellerisch wurde hier eine fesselnde, tief berührende Interpretation auf die Bühne gebracht – ein Opernerlebnis, das noch lange nachhallt.
Marc Rohde, 1. April 2025
Dead Man Walking
Oper in zwei Akten von Jake Heggie
Schleswig-Holsteinisches Landestheater Flensburg
Premiere am 29. März 2025
Regie: Felix Seiler
Musikalische Leitung: Martynas Stakionis
Schleswig-Holsteinisches Sinfonieorchester