Linz: „Der Barbier von Sevilla“, Gioachino Rossini

Nikolaus Harnoncourt hat einmal gesagt, dass er deshalb nichts von Rossini dirigiere, weil Rossini keinen einzigen „Herzenston hingekriegt“ habe. Man kann gewiss darüber streiten, auch könnte mit diesem Verdikt der Vorwurf des tieferen Gegensatz zwischen angeblicher deutscher „Tiefe“ und kritisierter italienischer „Oberflächlichkeit“ aufgewärmt worden sein. Unbezweifelbar aber ist es, dass Rossinis und sein Librettist Cesare Sterbini im Fall des Barbiere keine Charakter-, sondern eine Typenkomödie vorgelegt haben – Charaktere verstanden als gemischte. Wo die Gräfin Kantilenen singt, trällert Rosina Koloraturen. Man verfehlt also das Werk nicht, wenn man, trotz aller gelegentlichen Mozartnähe im Ton, das komische Element verstärkt.

© Herwig Prammer

So auch in der Produktion des Landestheaters Linz, die indes von einer interessanten Mischung aus Ernst und Spaß geprägt ist. Apropos „geprägt“: Schon vor Beginn der Vorstellung fällt die riesige Münze auf, die auf der Bühnenmitte zwischen Szene und Orchester vermittelt. Sie zeigt – im Zeichen der Republica Italia – nicht Anderes als den Kopf des Komponisten, der uns den Barbiere in seiner endgültigen Gestalt geschenkt hat. Geschenkt? In der Oper geht es zwar scheinbar und erst einmal um die Liebe, aber auch um das liebe Geld, das für erstaunlich viele Liebesdienst in dem Melodramma buffo gut ist. Es beginnt in der ersten Szene mit den bezahlten Musikern und begegnet noch, quasi negativ (durch die von Almaviva ausgeschlagene Mitgift der Rosina), noch in der letzten. Der Regisseur Gregor Horres halt also zusammen mit seiner Bühnenbildnerin Elisabeth Pedross eine Optik geschaffen, in der die Talerchen monströs, aber auch in jedem Sinne spielerisch ins Auge fallen: bis hin zu den fünf Münzplaneten, die während des ausbrechenden Wahnsinns im ersten Finale zum Tanzen gebracht werden. Ansonsten wechselt das Geld die Besitzer und Besitzerinnen (Figaros „Geliebter“) sehr deutlich; auch der Spiegel des Coiffeurs ist eine (einseitige) Münze.

Man könnte nun aus der Beobachtung, dass die Interessen in dieser Komödie nicht zuletzt finanzieller Natur sind, wie sie von Figaro explizit besungen werden, eine harte antikapitalistische Parabel machen. Glücklicherweise bleibt in Linz, wo Rossinis verehrter Mozart ein paar glückliche Tage verbrachte, der Spaß am Spaß nicht auf der Strecke. Im Gegenteil: die Kostümbildnerin Yvonne Forster verschaffte dem Regisseur die Gelegenheit, Figuren auf die Bühne zu stellen, die schon äußerlich nicht realistisch, sondern ausgesprochen absurd anmuten: absurd – doch nicht sinnlos. Denn die wahnwitzigen Perücken und Kostüme, die die Protagonisten zu tragen haben, schimmern schön surreal, also versehen mit Erinnerungen an eine Wirklichkeit, die zwischen Traum und Albtraum changieren. Dem Liebespärchen sieht man es sofort an, dass es zueinander gehört; das machen die blumigen Haartrachten und Trachten. Don Bartolo und Don Basilio entstammen mit den drei schwarzen Haarbüscheln bzw. der Hörnerperücke geradewegs der Hölle der Bosheit, Figaro ist ein grüner modeverlieter und -machender Geck, die „alte“ Berta (auch Marzelline genannt) trägt eine verrückte rote Röllchenperücke, und Fiorello darf eine affige Perücke im Stil des späten 18. Jahrhunderts ausführen. Man spielt bewegt, inspiriert von Rossinis quicklebendiger Musik, bewegt sich die vergoldeten Treppen hinauf- und hinunter, schlägt Türen auf und zu – und kriecht mitunter aus den Rossini-Riesenmünzen, deren Ränder praktische Klappen besitzen. Und wenn die berühmte Rossini-Walze sich crescendierend nach vorn bewegt, läuft ein Mann seelenruhig den größten Münzrand ab: als Halluzination des ewig müden wie ewig bekifften Ambrogio, des Dieners des Don Bartolo. Man ahnt: das technische Zeitalter forderte seinen Tribut – und man weiß, dass er von Rossini in sehr sehr lustvoller Weise ausgezahlt wurde.

© Herwig Prammer

Apropos Rossini: Der Maestro selbst läuft gelegentlich mit silberner (!) Weste und schwarzem Tutu über die Bühne, beaufsichtigt seine Truppe und fliegt am Ende, das ist sehr bewegend, abschiedwinkend auf einer Münze über der Szene seinen Figuren davon. Weiße Tutus trugen vorher bereits die Mannen des Grafen: unter schwarzen Fräcken. Der Chor, also der gut disponierte Herrenchor des Landestheaters, tritt auch als Soldatentruppe auf, diesmal als Insektenbande. Man sieht, man hatte Spaß am Absurden, dabei doch auch am ästhetisch Fantasievollem, auch am musikalischen Spaß. Berta versucht ihre Aria di sorbetto nicht weniger als zwei Mal zu singen, bevor sie denn doch nicht mehr unterbrochen wird.

Wie auch diese dramaturgisch entbehrliche, aber entzückende Arie von Gotho Griesmeier gesungen wurde, so etwas entschied den Erfolg des Abends. Denn das Linzer Ensemble agiert spielerisch wie vokal auf hohem Niveau. Großartig die Rosina der Angela Simkin. Sie hat einen angenehmen, auch angenehm abgedunkelten Sopran, der nicht allein ihre Prunkarie zu einem akustischen Vergnügen macht (und spielen kann sie die widerspenstige junge Dame aus dem FF). Ihr Galan heißt SeungJick Kim, sein lyrischer Tenor schmeichelt sich, bis in die ausgehaltenen Spitzentöne hinein, ins Ohr der Zuhörer. Großartig auch der bärbeißige, stimmlich starke Bartolo des Michael Wagner: eine Charakterstudie ohne Tiefsinn, aber mit viel vis comica. Sehr schön auch sein Kollege Basilio alias Dominik Nekel; auch die Calunnia-Arie geht an diesem Abend nicht verloren. Die Hauptrolle aber wird von Adam Kim potent, also stimmstark und -schön gesungen und wendig gespielt. Man hat, an berühmtere Häusern, schon vokal schwächere, knörzigere Figaros gehört. Zuletzt muss Alexander York genannt werden weil er erstens im ersten Akt den Almaviva-Diener Fiorello weit über die im Libretto angegebenen Einsätze gestalten darf, damit sein seltsam deplaziertes Rezitativ Akt I/8 nicht gar so einsam dasteht und die Figur aufgewertet wird, und weil er zweitens im Haus des Bartolo den ewig müden und ewig bekifften Ambrogio chargieren und im Trubel des ersten Finales ganz hoch oben auf der zentralen Münze gleichsam abhotten darf. Uwe Baco ist, nicht zuletzt, „ein Komponist“, also Signor Gioachino: eine charmante Erscheinung – so wie Astrid Lindinger als Civetta, ein (eher „leichtes“) Mädchen aus Sevilla.

© Herwig Prammer

Der Rossini des Linzer Musiktheaters aber klingt so leicht wie leger, so genau wie konturiert, in summa, wie gesagt, mozartnah. Claudio Novati hat das Glück, das Bruckner Orchester Linz zu dirigieren, um das hörbar animierte Linzer Publikum zu begeistern. So geriet das Werk, das seine besten Momente an einer brillanten Oberfläche versteckt, unter die Könner, die wissen, dass eine gute Tragödie (wie sie in Mozarts Version des zweiten Teils der Beaumarchaischen Figaro-Trilogie realisiert wurde) immer auch den Zug zur Groteske hat – und zu einem musikalischen Glück, das nicht nach irgendeiner deutschen „Herzensnote“ fragen muss.

Frank Piontek, 5. Juni 2024


Der Barbier von Sevilla
Gioachino Rossini
Landestheater Linz

Premiere: 20. Januar 2024
Besuchte Aufführung: 3. Juni 2024

Regie: Gregor Horres
Musikalische Leitung: Claudio Novati
Bruckner-Orchester Linz