besuchte Aufführung: 12.01.2013 (Premiere)
LA TRAVIATA bildet zusammen mit IL TROVATORE und RIGOLETTO die so genannte Erfolgstrias aus Verdis mittlerer Schaffensperiode. Die drei Opern gehören nicht nur zu den populärsten und meistgespielten Werken Verdis, sondern des gesamten Repertoires. Die TRAVIATA vermochte sich zuerst nicht durchzusetzen. Erst nach einigen kleinen Änderungen (und einer Umbesetzung der korpulenten Sopranistin der Uraufführung) setzte das Werk seinen langsamen Siegeszug an. Indem Verdi und sein Librettist eine ausserhalb der anständigen Gesellschaft stehende Frau (wörtlich bedeutet LA TRAVIATA „Die vom rechten Weg abgekommene“) ins Zentrum einer Oper stellten, betraten sie inhaltlich Neuland, ja die TRAVIATA gilt sogar als Vorläuferin der veristischen Opern des späten 19. Jahrhunderts. Musikalisch ist die gefühlvolle Komposition ganz als Seelendrama der Protagonistin angelegt, die Sympathien Verdis für diese Ausgestossene werden deutlich hörbar. Nur schon das an trauriger Empfindsamkeit kaum zu übertreffende Vorspiel zum dritten Akt lässt keine Zuhörerin, keinen Zuhörer unberührt.
2013 wird das Verdi- (und Wagner-) Jahr werden, da die beiden Giganten der Opernliteratur vor 200 Jahren das Licht der Welt erblickten. Notgedrungen (u.a. Grösse des Orchestergrabens) werden sich die kleineren Häuser deshalb dem italienischen Maestro zuwenden und das Luzerner Theater bildet da keine Ausnahme, ja es reiht sich sogar stolz in die Reihe der Häuser ein, welche bereits in den ersten Januar Wochen mit einer Verdi-Premiere aufwarten. Die Verantwortlichen haben sich dabei nicht für eine der seltener gespielten Jugendopern Verdis entschieden, sondern sich mutig daran gemacht, eine der meistgespielten und bekanntesten Opern aus der Feder des Komponisten, LA TRAVIATA, zu präsentieren, sie auf ihre Relevanz für die Gegenwart zu erforschen. Das Luzerner Premierenpublikum liess sich erstaunlich interessiert, gelassen und am Ende gar begeistert auf diese Reise mitnehmen, obwohl ihm das Inszenierungsteam (Regie: Lorenzo Fioroni, Bühnenbild: Werner Hutterli, Kostüme: Sabine Blickenstorfer) diese Reise nicht einfach machen wollte. Verabschieden musste man sich von Bildern und Kostümen aus der Zeit des Bürgerkönigs, welche vielleicht von Visconti- und Zeffirelli-Inszenierungen oder Verfilmungen noch im Kopf herumschweben mochten. Bereits bei den ersten Klängen der Ouvertüre, den so eindringlichen Reibungen der geteilten Violinen, welche das Leidmotiv Violettas darstellen, machte sich der Hang des Regisseurs zu Gags bemerkbar, indem ein Kellner versuchte, einen riesigen Turm von gefüllten Champagnergläsern über die Bühne zu tragen – und auch prompt Applaus erntete, als er es schaffte. Szenenapplaus mitten im Vorspiel zu LA TRAVIATA – das hat es wohl noch nie gegeben. Also gar nichts für Puristen. Genau zum Einsetzen der m-ta-ta Begleitfiguren begann sich die Bühne zu drehen (Leierkastenmusik, der ungerechtfertigte Vorwurf, den sich Gegner Verdis oft erlaubten, wurde hier zur illustrierenden Karussellmusik) und die frivole Gesellschaft beginnt die Schläge zu zählen, es ist Silvesternacht. Dann geht die lärmige Fete los, die Damen tragen all ihre Reize zur Schau, erinnern mit ihren gigantischen Busen an Russ Meyers SUPERVIXENS. Da können sich die Herren (ganz luxuriös besetzt mit Stützen des Luzerner Ensembles: Robert Maszl als Gastone, Marco Bappert als Douphol und dem markanten Bass von Szymon Chojnacki als d’Obigny) natürlich nicht zurückhalten und holen auch schon mal ihre ebenso gigantischen männlichen Attribute aus dem Hosenstall.
Nur einer fällt aus dem Rahmen dieser oberflächlichen Smoking-/Giltzerkleid-Welt: Alfredo, der Junge aus der Provence mit seiner Strickjacke mit Camargue-Pferdchen Applikation. Schüchtern stimmt er das Brindisi Libiamo an: Carlo Jung-Heyk Cho macht das ganz wunderbar, setzt sein kerniges, apartes Timbre mit viel Schmelz ein, kann dann aber im Verlauf der Oper auch wutentbrannt auftrumpfen. Die Drehbühne ermöglicht es Violetta und Alfredo, sich zum Duett zurückzuziehen: Hinter die Küche, zwischen die Mülltüten, wo sich eben noch die Bediensteten über das Getue der dekadenten Gesellschaft lustig gemacht haben. Die Musik der Banda erklingt hier über Lautsprecher. Hierhin zieht sich auch Violetta nach ihren Schwächeanfällen zurück und sinniert über die aufkeimende Liebe zu Alfredo nach. Svetlana Doneva verfügt über eine facettenreiche, ungemein ausdrucksstarke Stimme, setzt ihr üppiges Timbre effektvoll ein und verfügt ebenso über wunderschön verklingende Piani. Von ihr wird darstellerisch alles abverlangt und sie stürzt sich mit Vehemenz in die Rolle, ist sich nicht zu schade, für das Ah, fors è lui auf eine gefährlich schwankende Bockleiter zu steigen, oder im zweiten Akt Afredo während seiner grossen Arie in einem Schubkarren (wir sind ja auf dem Lande, und der Wind bläst heftig!) durch das unfertige Spanplattenhaus zu fahren, in dem noch viel Laub auf dem Boden liegt, das natürlich auch während der Arie weggefegt werden muss. Dass es Herbst geworden ist, machen auch die Nebelschwaden deutlich, die nun unaufhaltsam in den Saal strömen und die Sicht auf die Übertitel praktisch verunmöglichen. Vater Germont (sehr schön und mit viel Wärme und Schlichtheit gesungen von Todd Boyce) tritt stets mit Koffer auf, ein Reisender in Sachen Moral, halbblind tastet er sich über die Bühne, gleicht einem Eremiten, kommt aber gleich in Begleitung seiner Tochter und einer weiteren stummen Dame (Mutter?, Gouvernante?). Auch in diesem Bild kommt die Drehbühne zum sinnvollen Einsatz: Violetta versucht ständig den Anwürfen Germonts zu entkommen, schafft es aber nicht und muss sich schliesslich geschlagen geben. Wunderbar zart intoniert sie das Dite alla giovine, reisst sich zum Abschied vom Hurenleben die blonde Perücke vom Kopf und wird die auch nicht mehr aufsetzen.
Denn der genialste und überzeugendste Einfall kam dem Regisseur für das zweite Bild des zweiten Aktes: Violetta ist (nach einem ergreifenden Amami, Alfredo!!!) nach Paris zurückgekehrt. Ihre einstigen Freunde bei Flora (Carolyn Dobbin spielt und singt umwerfend lasziv in ihrem giftgrünen Kleid) feiern noch immer in der selben, platten Manier, stülpen sich Spagetti-Töpfe über den Kopf, schmieren sich mit Rasierschaum voll, fallen wollüstig über den Violetta-Ersatz her. Doch Violetta sitzt in Jeans und Angora-Pullover am Bühnenrand und betrachtet aus der Distanz das dekadente, abstossende Getue. Man merkt, in dieser Frau hat sich etwas geändert, sie gehört nicht mehr dazu, ist auch hier die Traviata – die vom Weg abgekommene. Neben vielen unnötigen Kalauern kann Lorenzo Fioroni aber auch sehr poetische und nachdenklich stimmende Momente inszenieren. So im Schlussbild, wo Violetta zwischen den (endlich) umgestürzten Champagnergläsern liegt und damit träumerisch die Liebesmelodie Alfredos wie auf einer Glasharfe spielt. Wunderbar! Auch irgendwie berührend der Einfall, die Arie Addio del passato als Duett Violetta-Annina anzulegen. Damit wird nicht nur die Figur der treuen Gefährtin aufgewertet, sondern auch dem Umstand Rechnung getragen, dass diese mit Dana Marbach ganz herausragend besetzt ist. (Aber auch dies ist natürlich nichts für Puristen!) Leider werden solch wirklich schöne Momente immer wieder schnell durch überstrapazierte Gags verdorben. Das ständige Geschepper mit den Plastikbechern nervt zusehends, die lärmigen Narren entsorgen zum Sterben der Protagonistin Prothesen, Perücken, Kostüme und Schuhe auf der Strasse – la commedia è finita.
Auch wenn einige Fragezeichen bleiben, diese Luzerner TRAVIATA vermag Interesse zu wecken, bleibt spannend und erfüllt Giuseppe Verdis Meisterwerk musikalisch (auch dank James Gaffigans umsichtigem Dirigat und dem prägnant singenden Chor des Luzerner Theaters) mit praller Sinnlichkeit und Sensibilität, bringt den dem Werk immanenten Kontrast von croce und delizia, von gioia und dolore zu plastischer Wirkung.
Kaspar Sannemann, 12.02.2013
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