Besuchte Vorstellung: 28. April 2022
Es ist nicht nur eines der ältesten, sondern auch eines der kleinsten Stadttheater Deutschlands und bisher ein echter „Geheimtipp“. Das Mittelsächsische Theater Döbeln / Freiberg hat sich in den vergangenen Jahren unter der Intendanz von Ralf-Peter Schulze durch anspruchsvolle Inszenierungen großer Opern einen Namen gemacht. Mit bemerkenswertem Mut widmete man sich dabei den Werken des 20. Jahrhunderts, auch abseits des üblichen Kanons. Getragen wurden diese durch ein starkes Sängerensemble. Die „Primadonna assoluta“ des Hauses, Leonora del Rio, beschrieb der Berliner Musikkritiker Dieter David Scholz als „Glücksfall“ für das Haus, „mit großer Gesangskultur, mit betörenden Tönen, auch leisen, mit erfreulicher Wortverständlichkeit… und darstellerischer Noblesse“. Dass sie sich nach über zehn Jahren zum Ende der Spielzeit verabschieden wird, ist für das Theater ein Verlust. Ob als Marschallin, Mimi, Arabella, Madeleine di Coigny oder Giorgietta – immer wieder vermochte es die die Sängerin mit argentinischen Wurzeln mit ihrem wandlungsfähigen Sopran und eindringlicher Verkörperung unterschiedlicher Bühnenfiguren das Publikum zu berühren.
Zu den anspruchsvollsten Rollen des gesamten Opernrepertoires dürfte die Rolle der „Frau“ in dem 1959 uraufgeführten letzten Bühnenwerk von Francis Poulenc „Die menschliche Stimme“ gehören. In der vierzigminütigen „Monooper“ konzentriert sich alles auf die einzige auftretende Person, die ein Telefongespräch führt. Der Geliebte am anderen Ende der Telefonleitung hat sie offenkundig vor wenigen Tagen verlassen. In einem emotionalen Ausnahmezustand zwischen Hoffnung und Verzweiflung sowie durch Manipulation versucht sie, ihn zurückzugewinnen. Das stellt immense Anforderungen an die Sängerin, die idealtypisch zugleich Schauspielerin und Tänzerin sein sollte. In der Konzentration auf die einzige Bühnenfigur ohne eine äußere Handlung gilt es, ausschließlich durch die Musik und Darstellung, einen Spannungsbogen zu entwickeln und zu steigern. Dabei muss die Sängerin nicht nur diese unterschiedlichen Gefühlslagen vermitteln, sondern zugleich auch die Reaktionen der nicht sicht- und hörbaren Gesprächspartner am anderen Ende der Telefonleitung spiegeln: des Geliebten, eines „Fräulein vom Amt“, die die Verbindung immer wieder herstellt oder unterbricht und darüber hinaus noch einer zufällig in die Leitung geratenen unbekannten Frau, die sich kommentierend in das Gespräch einschaltet.
Die kleine Bühne unterstützt die Konzentration auf das Wesentliche. Sie wird durch vier Säulen und eine modern anmutende Liegecouch dominiert. Ein Viereck, das ein Fensterkreuz andeutet, dessen Größe sich verändert und welches keinen Blick nach außen ermöglicht, verstärkt eine klaustrophobische Atmosphäre. Ein Geflecht von Telefonschnüren, in denen sich die Protagonistin verfängt, fesselt oder festhält und zeitweilig eine Schale, in der Briefe oder sinnbildlich für Erinnerungen stehende Papiere verbrannt werden, bilden die einzige Ausstattung. Lichteffekte verstärken die Stimmungsschwankungen. Auf die Säulen projizierte Wasserbewegungen assoziieren Suizidgedanken.
Die Handlung setzt mit der durch Störungen beeinträchtigten Herstellung einer telefonischen Verbindung ein, die zu dieser Zeit üblicherweise noch durch ein „Fräulein vom Amt“ handvermittelt wurde. Das anfangs noch durch vordergründiges Geplänkel und banale Schutzbehauptungen dominierte Gespräch eskaliert im Verlauf der Dreiviertelstunde zusehends. Die räumliche Entfernung ermöglicht zunächst ein gegenseitiges Versteckspiel, das sich jedoch nicht lange aufrechterhalten lässt. Bald ist von einem Suizidversuch die Rede. Der Ausgang des Gesprächs bleibt offen.
Das durch den Ersten Kapellmeister José Luis Gutiérrez geleitete Orchester der Mittelsächsischen Philharmonie bildet zwischen nervöser Spannung, geradezu zärtlichen Tönen, Pausen und expressiven Ausbrüchen einen Seelenraum aus unterschiedlichen Klangfarben, in dessen Zentrum sich die Sängerin bewegt. Die Klangsprache erinnert an die zwei Jahre zuvor, 1957, uraufgeführten „Dialoge der Karmeliterinnen“. In seiner Einführung in das Werk weist Christoph Nieder im Programmheft auf das Verbindende beider Opern hin. Die Zerbrechlichkeit des Menschenlebens bildet sowohl in den „Dialogen der Karmeliterinnen“ als auch in der „Menschlichen Stimme“ das untergründige Thema. Angst, Verzweiflung und Hoffnung, die sich in der großen Nonnen-Oper auf drei Charaktere verteilen, werden hier in der einzigen Rolle zusammengeführt. An die Protagonistin dieser Oper stellt diese Komprimierung gegensätzlicher Seelenzustände höchste Anforderungen. In den Worten der Regisseurin Arila Siegert: „Sie muss fast sprechen, hauchen, muss auch das dreigestrichene C singen, also hochdramatische und technisch schwierige Momente zeigen… Sie muss von einem Zustand in den anderen, oft nur 2-3 Takte, transformieren.“
Es ist ein Erlebnis, wie es Leonora Weiß-del Rio gelingt, diesen „musikalisch-expressiven Parforceritt von höchster Expressivität“ zu meistern. Selbst über den gelegentlichen Ausbrüchen des Orchesters klingt ihr Sopran kultiviert und textverständlich. Da in dem Freiberger Theater keine Projektion des Librettos möglich ist, erleichtert dies nicht unwesentlich den Zugang zum Geschehen auf der Bühne. Auf diese Weise erschließt sich die Einheit von Musik, Text und Körpersprache.
Angesichts Bühnenpräsenz der Sängerin, die Raum erfüllt und sich auf das Publikum überträgt, hätte es nicht zwingend der Ergänzung durch ein Tänzerpaar bedurft. Die Regisseurin und Choreographin Arila Siegert, eine Schülerin der legendären Gret Palucca, fügt in ihrer Interpretation des auf eine Person fokussierten Werkes den inneren Widerstreit zwischen einer männlichen Verkörperung des Todes (Lorenzo Malisan) und der weiblich dargestellten Seele (Aya Sone) hinzu. Sie spiegeln das Innenleben der Protagonistin zwischen Ängsten, Resignation, Todessehnsucht und Hoffnung. Dabei gelingt es den Tänzern, kommentierend zu wirken und emotionale Akzente zu setzen. Anders als bei dem etwas in Mode gekommenen Einsatz von Tänzern in Opern, unterstützt diese Interpretation den emotionalen Gehalt des Werkes und wirkt nicht aufgesetzt. Als die „Seele“ die Sängerin mit vermeintlich körperlichem Einsatz zurückhält, sich in den gut besetzten Orchestergraben zu stürzen, merkt man, wie dem Publikum der Atem stockt.
Im kleinen Theater von Freiberg wurden offenbar noch im Zusammenhang mit den coronabedingten Einschränkungen Tische im Zuschauerraum aufgestellt, an denen jeweils drei Personen Platz finden konnten. Ein freundlicher Mitarbeiter des Theaters, der meine Karte für die ursprünglich in Döbeln geplante Premiere problemlos umtauschte, erläuterte es so: „Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in Paris auf dem Montmartre und lauschen den Musikern“. Glücklicherweise lud diese unkonventionelle Sitzordnung nicht zu einer Lockerung der Disziplin ein. Das Publikum folgte der Handlung mit angehaltenem Atem und benötigte nach dem Ende der Oper Zeit, um sich zu sammeln.
Für Aufführungen im Döbelner Theater hatte man sich aus logistischen Gründen entschieden, das Werk mit einer anderen Kurzoper, der opera buffa „Telefon“ von Gian Carlo Menotti, zu verbinden. In Freiberg erfuhr der Abend in der direkt gegenüberliegenden Nikolaikirche seine Fortsetzung mit dem aufwendig besetzten Te Deum von Arvo Pärt. Als inhaltliche Klammer der beiden unterschiedlichen Werke wird im schön gestalteten und informativen Programmheft der „Übergang der individuellen zur universalen Liebe“ genannt. Das Te Deum bilde ein „ins Transzendente erweitertes stimmliches Requiem“. Es gibt eine erstaunlich Parallele im Leben und Schaffen der beiden Komponisten, in deren Oeuvre geistliche Werke einen wichtigen Platz einnehmen. Im Alter von 37 Jahren wandte sich Poulenc dem katholischen Glauben zu; der in Estland geborene Pärt trat exakt im gleichen Lebensjahr der Russisch-Orthodoxen Kirche bei.
Das halbstündige Te Deum für drei Chöre, Klavier, Streichorchester und Tonband vereinigte den Opernchor des Mittelsächsischen Theaters, den Max-Klinger-Kammerchor Leipzig, den A-capella Kammerchor Freiberg und Mitglieder des Jugendchores „Voice Dance“ mit der Mittelsächsischen Philharmonie zu einem homogenen Klangerlebnis.
Die Inspiration für das 1984 im Auftrag des Westdeutschen Rundfunks komponierte Werk bildete nach den Worten des Komponisten das Panorama einer Bergkette, deren unterschiedliche Tönungen der Farbe Blau er in Töne setzen wollte. Dabei bediente er sich des von ihm in der Mitte der siebziger Jahre entwickelten sogenannten „Tintinnabuli-Stils“ – ein eigenes harmonisches System, dessen Bezeichnung sich von dem lateinischen Begriff für Glöckchen ableitet. Dieser von der mystischen Erfahrung des Kirchengesangs geprägte Stil vermittelt seinem langsamen Aufbau eine meditative Stimmung. Das Werk baut auf einem Glockenklang auf; elektronisch aufgenommene und bearbeitete Töne einer Windharfe, deren Saiten aufgrund des hindurch strömenden Windes vibrieren, verstärken dessen Wirkung.
Der Klang der in diesem Stil komponierten Werke Pärts zieht den Zuhörer unmittelbar in seinen Bann. Von CD im heimischen Wohnzimmer kann er mit der Zeit allerdings auch ermüdend wirken. In der mustergültigen Interpretation, die durch die Akustik des Kirchenraumes mit seinem Nachhall eine besondere Wirkung erfuhr, wurde das Te Deum zu einer Offenbarung. Es bildete den beeindruckenden Abschluss eines außergewöhnlichen Opernabends.
Wie wird es mit dem Mittelsächsischen Theater unter der neuen Intendanz weitergehen? In der kommenden Spielzeit setzt es mit „Rigoletto“ und den „Lustigen Weibern aus Windsor“ eher auf Bekanntes und Bewährtes sowie die „Heitere Muse“. Mut bei der Spielplangestaltung birgt immer auch das Risiko eines schwer einzuschätzenden Zuspruchs durch das zahlende Publikum. Aufwendige und anspruchsvolle Produktionen werden sich angesichts des überschaubaren Einzugsgebiets sowie der geringen Platzkapazitäten in den beiden Häusern und der geringen Einnahmen aus dem Kartenverkauf immer schwerer realisieren lassen. Andererseits gibt es dennoch Enthusiasten, für die die Perlen in den Spielplänen eine Anregung für einen Kurzurlaub vor Ort bilden.
Eine gute Idee kann zur Nachahmung empfohlen werden. Das Spielzeitbuch für 2022/23 wurde in einen sinnvoll gestalteten Kalender integriert, der als täglicher Begleiter nützlich sein kann. Für einen geringen Obolus an der Theaterkasse verkauft, ist er wesentlich sinnvoller als die in einigen Opernhäusern immer noch verbreiteten unhandlichen Folianten mit vielen Bildern und wenigen Informationen.
Michael Rudloff, 3.4.22
Bilder (c) Theater Freiberg