Potsdam: „Orlando Generoso“, Agostino Steffani

Gellende Hilferufe dringen in die Pflanzenhalle der Orangerie. Eine Frau mit Blut an Händen und Schläfen trommelt draußen gegen die Fensterfront. Die Irritation legt sich, als die Verzweifelte kurz darauf auf das Podium stürzt, die Musik einsetzt und klar wird, dass der Schock zur Inszenierung dazugehört. Es ist der nervenaufreibende Auftakt zu einem Krimi, der es in sich hat, der im Fortlauf der Handlung mit zahlreichen Gewaltexzessen noch brutaler anmutet als so manche Oper von Händel.

Ob René Jacobs, Max Emanuel Cencic, George Petrou, Wolfgang Katschner oder Dorothee Oberlinger: Zunehmend namhafte Künstler auf dem Gebiet der Alten Musik entdecken vergessene, kaum bekannte Barockopern wieder, und keineswegs nur von Händel, dem freilich meist gespielten, sondern auch von Porpora, Vivaldi, Cavallin oder Leonardo Vinci.

© Stefan Gloede/Musikfestspiele Potsdam Sanssouci

Agostino Steffani, 1654 in Castelfranco Veneto im Treviso geboren, war mir bislang noch gar nicht untergekommen, was ein wenig erstaunen mag, da es sich bei seiner dritten Oper „Orlando generoso“ aus dem Jahr 1691, die nun Dorothee Oberlinger für die siebte Ausgabe der Musikfestspiele Potsdam Sanssouci unter ihrer künstlerischen Leitung ausgegraben hat, als ein ganz besonderes Juwel erweist.

Das Stück, das auf Ariostos berühmtes Versepos „Orlando furioso“ zurückgeht, das auch zahlreichen anderen Komponisten des 17. und 18. Jahrhunderts als Vorlage diente, wirkt in seinen starken Emotionen von Liebe, Leidenschaft, Schmerz und Eifersucht auch nach 334 Jahren noch zeitlos aktuell. Und vor allem beeindruckt Steffanis Partitur mit einer Vielzahl herrlichster Melodien, starken Affekten und einem für seine Zeit außergewöhnlichen Schreibstil, der sich weit von dem üblichen schematischen Wechsel von Rezitativen und da Capo-Arien deutlich abhebt, schon allein mit einer imposanten Fülle an Duetten unterschiedlichster Art. Jedenfalls schreibt Steffani weit mehr Duette als seinerzeit üblich, lässt mitunter sogar zwei Duette aufeinander folgen. Er weicht damit schon lange vor Händel die starren Schemata in der Barockoper deutlich auf. Und präsentiert ein Stück spannendes Stück Musiktheater in einer Stilistik, die mit bestimmten Wendungen an Claudio Monteverdi erinnert. An seiner Musik zeigt sich also gleichermaßen, welche Vorbilder Steffani vertraut waren und wie er seiner Zeit schon voraus war.

Den hervorragenden musikalischen Gesamteindruck der Potsdamer Produktion befeuern Oberlinger und ihr hoch motiviert agierendes Ensemble 1700 mit ihrer ebenso farb- wie abwechslungsreichen- , ideal die Klangrede unterstreichenden Instrumentation. So manches lyrische Lamento begleiten alleine die Streicher, im Kontrast dazu besorgen Blockflöten und Tamburin einen fröhlichen, munteren Ton, oder bringt ein Fagott, das in einer Arie das Cello als Kontinuo ablöst, eine gänzlich andere Farbe in die Musik. Bei alledem darf man auch gerne an Vivaldi denken angesichts der nahezu explodierenden Energie, die bisweilen aufkommt, und in einem Moment größten Schmerzes tönen die Streicher so fahl und leicht metallisch wie im Winter von Vivaldis „Vier Jahreszeiten“.

Angesichts der so zeitlosen Geschichte um den in Raserei verfallenden Ritterhelden Orlando, den grausamen Oligarchen Galafro, den Magier Atlante sowie die beiden in ihrer Liebe empfindlich gestörten Paare Angelica und Medoro sowie Bradamante und Ruggero gelingt die Inszenierung von Jean Renshaw, die die Figuren sowohl seitens Kostümen und sparsamer Ausstattung zu heutigen macht, durchaus stimmig. Gewiss hätte sich an diesem schönen Ort eine gänzlich andere Inszenierung denken lassen, die sich wie die musikalische Einstudierung einem historisch informierten Stil verschreibt wie beispielsweise die Arbeiten der belgischen Regisseurin und Choreografin Sigrid T’Hooft.

Jedoch belegt Renshaw, dass eine moderne, gegenwartsbezogene Lesart durchaus Sinn machen kann, wenn sie mit dem Libretto und der Aussage des Stücks Hand in Hand geht. Die deutsch-britische Regisseurin begann ihre Karriere als Tänzerin und arbeitet auch als Choreografin. Das ist diesem Orlando anzumerken, der sowohl seitens der Personenführung von der ersten bis zur letzten Minute hoch spannend anmutet, in der Weise, wie Sängerinnen und Sänger ihre Gefühle durchleben und durchleiden, als auch seitens der choreografierten, in der Partitur ebenfalls zahlreich enthaltenen Tänze. Dafür hat sie mit Martin Dvořák und Katharina Wiedenhofer ideale Partner an Bord, die aus den kurzen Einlagen packendes Tanztheater machen, das an Größen wie William Forsythe, Pina Bausch oder Sasha Waltz erinnert, mit der Musik harmoniert und mit sehr zackigen, harten, aggressiven Bewegungen das große Gewaltpotenzial der Handlung aufgreift. Die Schriftzeichen auf ihren schwarzen Trikots wecken dazu passend Assoziationen an asiatische Kampfsportarten.

© Stefan Gloede/Musikfestspiele Potsdam Sanssouci

Der spanische Countertenor Gabriel Díaz, agil in allen Lagen, gibt treffend den gnadenlosen Tyrannen Galafro, der jeden gefangen nehmen und foltern lässt, der seine Pläne durchkreuzt, sich seinen Bestimmungen widersetzt oder ihm einfach nur suspekt erscheint. Auf der fast leeren Bühne unmittelbar vor dem Orchester, auf dem es nur einen Tisch sowie zwei Wände zu beiden Seiten mit Türen gibt (Ausstattung: Alfred Peter), geht es oftmals hoch her, wenn sein Befehlsempfänger die Opfer an den Haaren schleift, ihnen starke Hiebe versetzt oder sie gegen die Tischkante schleudert.

Selbst gestandene Schauspieler könnten die Gemarterten nicht überzeugender spielen als die trefflichen Sängerdarsteller, die ihre Martyrien auf allen Ebenen höchst authentisch durchleiden. Und noch dazu Stimmen hören lassen, die sich herrlicher kaum denken lassen. Hélène Walter als jene viel begehrte Angelica, die den Soldaten Medoro liebt, fatalerweise aber auch von Orlando hartnäckig umworben wird, betört mit einem schlanken, glockenhellen, noch in den höchsten Spitzen anrührend zärtlich tönenden Sopran, der zugleich über dramatisches Potenzial verfügt, wo es geboten scheint. Shira Parchornik steht ihr als Bradamante mit ihrem kristallin anmutenden, luziden Sopran in nichts nach, erscheint aber letztlich als die größte Leidende unter allen, muss sie doch im Zuge eines fürchterlichen Missverständnisses annehmen, dass ihr Geliebter Ruggero, mit dem sie der Zauberer Atlante auseinanderbringen will, sich in Angelica verliebt hat. Wie sie sich bildlich die Haare ruft, in ihrer Eifersucht Ruggero gegen die Wand drückt, sich vor Kummer krümmt, ihren seelischen Schmerz herausschreit, bisweilen mit einer gewissen dramatischen, darauf abgestimmten Schärfe- das alles ließe sich nicht ergreifender gestalten.

Und kaum hat man sich nach einem der stark energetischen Zwischenspiele halbwegs regeneriert, folgt schon die nächste zutiefst bewegende große Szene des Orlando, in jenem Moment, in dem er in Raserei verfällt. Terry Wey, auf dessen Soloprogramm beim kommenden Bayreuth Baroque Opera Festival man sich jetzt schon freuen darf, meistert die Wahnsinnsarie Furien, lasst mich los, werft die Schlangen weg , ein Höhepunkt der Oper, mit Haut und Haaren, führt seinen schlanken, beweglichen Counter dabei in die aberwitzigsten hohen Lagen, steigert sich immer mehr hinein in ein unaufhörliches Rasen. Wie kann jemand diese Emotionen nur in Musik fassen, fragt man sich, während der innere Puls immer höherschlägt. Das ist tatsächlich auskomponierter Wahnsinn!

Eine solche musikalische Herausforderung hält die Partitur für den strapazierten Ruggiero, den in Potsdam Dänemarks führender Countertenor Morten Grove Frandsen mit schönen Stimmgaben meistert, nicht bereit, dafür enthält sein Part gleich mehrere einzigartige Duette mit Bradamante, in denen die beiden Stimmen perfekt miteinander harmonieren.

Natalia Kawalek gelingt es trotz ihres sehr hellen Mezzosoprans, aus der Partie von Angelicas Geliebtem Medoro überzeugend eine Hosenrolle zu machen. Einzig Sreten Manojlovic als Magier Atlante hat mich nicht restlos überzeugt. Zwar trumpfte er mit großem Volumen auf, dies auch noch in den tiefsten Registern seines Bassbaritons, aber durch seine virtuosen Koloraturen orgelte er sich mit ausladendem Vibrato doch etwas unpräzise im Ungefähren.

Aber diese kleinen Abstriche trübten nicht den Gesamteindruck einer Produktion, die weit mehr als nur vier Aufführungen verdient hätte.

Kirsten Liese, 26. Juni 2025


Orlando Generoso
Agostino Steffani

Musikfestspiele Potsdam Sanssouci 

24. Juni 2025

Inszenierung: Jean Renshaw
Musikalische Leitung: Dorothea Oberlinger
Ensemble 1700