Bad Elster: „Die Walküre“, Richard Wagner

Walküre in Detmold – so heißt ein bekanntes Buch, in dem der Journalist Ralph Bollmann beschreibt, wie er sämtliche deutschen Opernhäuser besucht. Walküre in Bad Elster – auch so hätte das Buch heißen können, denn auch im kleinen König-Albert-Theater kann man eine große Oper spielen, wenn auch „nur“ als Gast-, nicht als Eigenproduktion. Am Abend des 19. November 2025 besuchten gut 300 Menschen den Saal, um ihn, obwohl’s Feiertag war, die Vorstellung um 15 Uhr begann und Die Walküre als populärstes aller Ring-Teile gilt, doch nicht ganz zu füllen; in Halberstadt, wo die Produktion entstand, haben 500 Besucher Platz. So kamen im vogtländischen ehemaligen Kurtheater von 1914, in dessen oberem Foyer auch Wagners Plakette sehr zentral und in Goethes Sinn „bedeutend“ an der Wand hängt (Weber bewusst anschauend, den ihn anschauenden Mendelssohn den Hinterkopf zeigend) – in Bad Elster kamen also viele einheimische und etliche fremde Gäste in den Genuss einer Vorstellung, die den Opernfreund wieder davon überzeugt hat, dass auch in der sogenannten Provinz gutes Operntheater möglich ist, das keinen Provinzbonus benötigt, um zu überzeugen.

© Ray Behringer

Wer Rheingold in Halberstadt oder Bad Elster gesehen hatte, war natürlich im Vorteil, denn Marco Misgaiskis Inszenierung versteht sich als Zusammenhang von vier Teilen. Dies zu erwähnen ist nicht überflüssig, da fragmentierte Ring-Inszenierungen zunehmend populärer werden. In Halberstadt bzw. Bad Elster sind also Raum und Sängerensemble von Rheingold und Walküre identisch, oder anders: Der von Tom Grasshof entworfene Platz, der am „Vorabend“ eingeführt wird, ist auch in der Walküre der Spielort der weiteren Handlung. Aus den Tiefen des Rheins, den Götterhöhen und Nibelheim wird Hundings Hütte und das Felsengebirge; dass wir uns in einem quasi bürgerlichen Raum befinden, dessen Grundstruktur im 19. Jahrhundert entstand, ist so wenig originell wie es praktikabel ist. Fraglich bleibt nur, ob all jene Zuschauer der kleinen Theater, die keine Erfahrung mit dem Ring-Kosmos haben, die Idee als Interpretation durchschauen. Im Übrigen ist die Lösung rein pragmatisch: Wo gespart werden muss, arbeitet man verständlicherweise mit Einheitsräumen. „Fluch des Einheitsraums“, so hat Friedrich Dieckmann, dem wir neben profunden Büchern zur (Musik-)Theater- und Gesellschaftsgeschichte auch funkelnd kluge Kritiken zu Bayreuther Festspielaufführungen verdanken, das einmal genannt. Inzwischen hat man sich an diese jeweils veränderten Einheitsräume gewöhnt. Belassen wir es dabei, zu konstatieren, dass man in ihnen gutes Theater spielen kann. Ein Raum, drei Türen, damit kommt ja auch das Boulevardtheater sehr gut aus – und Hundings Esche, multipliziert mal fünf, ohne dass in einem der silhouettierten Bäume auch nur ein Schwert steckte (das wird Wotan, wir sehen, das ist es zumindest didaktisch wertvoll, in den großen Tisch stoßen), ist eine bewusste Verweigerung dessen, was Wagner sich vorgestellt hat.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Der Rezensent plädiert nicht für eine „Werktreue“, die den Buchstaben des Librettos im Wortlaut ausführt, um ein historistisches Theater zu schaffen. Er macht nur darauf aufmerksam, dass die Art und Weise, wie man inzwischen Regie- und Bühnenbildanweisungen ignoriert, zur Konvention, um nicht zu sagen: Tradition geführt hat: die des angesagten Konventionsbruchs. Die Frage bleibt also nur noch, wie und wie gelungen – gewiss, das ist eine schier subjektive Kategorie – die szenische Anlage am Ende aussieht. Es geht hier also nicht (mehr) um „richtig“ oder „falsch“, sondern lediglich um die Überzeugungskraft dessen, was gezeigt wird – nicht mehr und nicht weniger.

© Ray Behringer

Dies nur als theoretischer Einschub zur Entwicklung der Opernregie, die an Wagners Ring wie an keinem zweiten Werk des Musiktheaters erläutert werden kann. Am Ende verantworten eh die Sänger und das Orchester das Gelingen des Unternehmens, kein wie auch immer geartetes „Konzept“. In Bad Elster heißt der erste Tag der Tetralogie also zu Recht Die Walküre. Ist auf dem Cover des Programmhefts eine junge, vielleicht schlafende Frau abgebildet, die man im Männerdeutsch noch der 70er Jahre als „Puppe“ bezeichnet hätte, ist die Walküre in Halberstadt / Bad Elster eine erfahrene Frau und Tochter, die ihrem Vater sehr wach und ausgeschlafen Paroli bietet. Peggy Steiner ist eine großartige Brünnhilde, weil sie größte Wortverständlichkeit und Deutlichkeit, wie sie Wagner über alles schätzte, mit einem auch in der Mittellage beeindruckend voluminösen, doch nicht forcierten Sopran verbindet. Sehen und hören wir diese Brünnhilde, auch die Sieglinde des Halberstädter Ring, haben wir es mit den Protagonisten eines Musiktheaters zu tun, das Wagner – völlig unabhängig von der äußeren Szene – vermutlich sehr gemocht hätte. Steiner spielt eine Wotantochter, deren Emotionen stets stark sind, und deren Verhaltensmuster konsequent auf eine Stärke angelegt ist, die sich fast automatisch gegen den Patriarchen richten muss – fast, denn die zentrale Tat Brünnhildes, die autonome Entscheidung für die Liebe und gegen die Staatsräson, wäre trivial, würde sie selbstverständlich sein. Steiner spielt das alles so, dass man es versteht. Die Regie erlaubt sich keine Mätzchen, indem sie die Tochter stricken oder weghören lässt, während der Vater seine monumentale Beichte von sich gibt. In Halberstadt macht man ein realistisches Musiktheater, das den Text genau ausbuchstabiert, ohne sich, was ja auch reizvoll ist, in ausgefuchste Tiefen zu begeben; so ist, wie es am Abend ein Wagner-Kenner sagte, die Produktion gerade für diejenigen Besucher, die Die Walküre nicht kennen, durchwegs spannend.

© Ray Behringer

Er ist auch deshalb bannend, weil Jessey-Joy Spronk die Sieglinde singt, nein: spielt, nein: zu sein scheint. Sie ist gesegnet mit einem riesigen, in den Höhen noch etwas ungeschliffenen Sopran, der für das kleine Haus definitiv zu groß ist. Weniger wäre hier mehr, denn auch ohne die forcierten Höhen, die die Sängerin gar nicht nötig hätte, böte sie ein Rollenporträt, wie es sein soll. Ihren Partner ein wenig überragend, ist sie eine Sieglinde, deren Mut wie deren Zerbrechlichkeit nicht zuletzt durch den dramatisch flackernden Stimmcharakter zutage tritt: kein Schöngesang, aber ein schöner und, man muss es wiederholen, zu lauter Gesang, der eher in die Met als nach Bad Elster passt. Max An ist Siegmund, er verfügt über einen lyrischen Tenor, dessen Dynamik völlig genügt, um die heldischen Töne zu produzieren, doch hat der Sänger leider die Angewohnheit, dem Orchester, das niemals hetzt, hinterherzusingen. Dass der Dirigent Florian Merz, bei einer Gesamtlänge von vier Stunden und 40 Minuten, die Harzer Sinfoniker vom ersten bis zum letzten Takt in einem beständigen Fluss hält, ist angesichts der Langsamkeit des Tenors ein kleines Wunder. Fast erwartbar hingegen die Einbrüche im Blech des 3. Akts. In Halberstadt verfügt man eben nicht über den Bayreuther Luxus, die Bläser zwischen den Akten auszutauschen, um die Höllenpartie durchzustehen bzw. zu blasen (im Ring ist das geplagte Horn an durchschnittlich jedem zweiten Takt beteiligt). In Halberstadt spielt man die bläserreduzierte Fassung von Alfons Abbass, wie sie, zusammen mit Elementen der Lessing-Fassung, auch in Coburg zur Aufführung kam; dass gelegentlich eher das zu hören ist, was man als „Neben“- oder (nicht melodische) „Mittelstimmen“ zu bezeichnen pflegt, stört mich im Übrigen nicht. Es ist ja immer reizvoll, Töne in einer Live-Aufführung des Ring zu hören, die man noch nicht kannte, obwohl man das Werk oft gehört hat. Pierre Boulez hat seinerzeit, als sein Dirigat in Bayreuth kritisiert wurde, sinngemäß angemerkt, dass es bei Wagner keine Haupt- und Nebenstimmen gäbe – wer den Ring oft gehört hat, mag sich sogar, wie der Unterschreibende, über den „unbekannten“ Wagner freuen. Man hört auch in Bad Elster also gern zu.

Aber ist es nicht erstaunlicher, dass alle Partien vom Haus besetzt werden können? Juha Koskela singt die geheime Hauptrolle der Tetralogie. Ich gebe zu, dass ich mich an die Stimme seines Wotans gewöhnen musste – erst im dritten Akt hatte er bzw. sie mich. Vorher tendierte sein finnisches Stimmorgan zu einem milchig-mulchigen Klang, der gegenüber der äußersten Verständlichkeit zumal von Peggy Schäfer und Jessey-Joy Spronk seltsam abstach (dass vermutlich nicht wenige Besucher, auch dann, wenn die beiden Damen sangen, die Übertitel mitlasen, um die Szene nur bruchstückweise mitzubekommen, mag an der Tatsache liegen, dass ein Ring in Bad Elster eine theaterhistorische Tat ist). Erinnerte er eine Freundin äußerlich an Hape Kerkeling, also eine Parodie, so musste ich gelegentlich an den amtierenden Direktor des Bayreuther Richard-Wagner-Museums denken… ein Zufall, aber ein hübscher. Insgesamt hat Koskela, der, man glaubt es nicht, seit 20 Jahren am Harztheater engagiert ist, seinen Riesenpart mit seiner immensen Erfahrung bis in die letzten Takte von Wotans Abschied realisiert, die Tochter leicht inzestuös in den Schlaf küssend. Bleibt die Göttergattin der Regina Pätzer, deren Stimme, wie der verzweifelte Wagnerianer Thomas Mann geschrieben hätte, „ganz mit historischem Edelrost“ überzogen scheint. Das Walküren-Oktett klang cum grano salis homogen, was einzelne herausragende Profile nicht unterdrückte. Und der sozusagen altgermanisch auftretende Hunding, Repräsentant einer alten Gesellschaft, von Beruf Schmied und Krieger, ist mit dem Bassbariton Samuel Berlad so wortdeutlich besetzt, dass das Musiktheater auch bei ihm verwirklicht wird.

© Ray Behringer

Szenisch also bietet die Harzer Walküre erstens einen von der Natur angefleckten Innenraum, zweitens lediglich verdoppelnde und sehr poppige Lichteinbrüche (rot, rosa, blau, gelb), die nicht nötig wären, weil der Raum schon alles sagt, drittens schöne Einzelheiten wie die Medaillons der Geschwister, an denen sie sich erkennen (auch wenn’s in Wotans Händen ein vorderhand unentwirrbares Kuddelmuddel der beiden Schnüre gibt) sowie den Flügelhelm, der an den unterm romanischen Zackenportal thronenden Kyffhäuser-Kaiser Barbarossa des Wotansstuhls des zweiten Aufzugs, auf dem Brünnhilde während des gesamten Ehedisputs sitzt und zuhört, erinnert und schließlich neben der schlafenden Sieglinde platziert wird, so dass das anrührende „Kehrte der Vater nun heim“ eine szenische Begründung findet, viertens einen Bezug zum Rheingold, indem Wotan während seines Monologs ein großes goldfarbenes Tuch aus der Öffnung eines U-Boots zieht, fünftens waldgrünfarbene Walkürenkostüme, die ein wenig an die der Elben im stofflich verwandten Herren der Ringe denken lassen und mit dem Mittel der Kapuze eine so einfache wie schlagende Verwandlung zur Todverkündigung und zum zeitweisen Verbergen Brünnhildes im Walkürencorps ermöglichen und sechstens militärische Kostüme für das Geschwisterpaar, die im frühen 19. Jahrhundert verortet werden können, also in Wagners Geburtszeit und den Napoleonischen Freiheitskriegen – seien sie preußisch, französisch oder, im Fall Sieglindes, spanisch inspiriert, wobei auf den Einfall hingewiesen werden muss, dass die einen Dreispitz tragende Schwester (es herrscht halt Krieg) zwar ein Männerkostüm trägt, aber an der Rückseite des Kostüms ein Kleidfragment an das Geschlecht erinnert, das da geknechtet wird.

So etwas nennt man „Symbolisches Theater“. Dass es spannendes Musiktheater ist, das musikalisch meist sehr schön klingt und, wie gesagt, schön fließt, ist allerdings die Hauptsache. Man darf sich also mit Fug und Recht auf die Fortsetzung freuen.

In einem Jahr also: Siegfried in Halberstadt.

Frank Piontek, 20. November 2025


Die Walküre
Richard Wagner

König-Albert-Theater Bad Elster
(Produktion des Harztheaters Halberstadt)

Besuchte Aufführung: 19. November 2025
Premiere in Halberstadt: 1. November 2025

Inszenierung: Marco Misgaiski
Musikalische Leitung: Florian Merz
Harzer Sinfoniker