Wien, Ballett: „Tanz im Off III“, Festival für zeitgenössischen Tanz 2025

Das dritte Mal nun lädt DAS OFF THEATER zu seinem jährlich im Dezember stattfindenden Festival für zeitgenössischen Tanz und Performance-Kunst „TANZ IM OFF III“. Zweimal zwei Tage bespielen Kompanien und Solo-Künstler, die verwunden verbundenen Räumlichkeiten des Theaters mit Tanz, Performance, Musik und Sound, Video-Installationen und visuellen Settings zwischen totaler Finsternis und Spotlight.

„Die Ausdrucksmaschine – ein choreographierter Prozess nach Kafka“

Das Anspruchsniveau gleich einmal sehr weit oben platzierend eröffnen der Tänzer und Choreograf Ardan Hussain und die von ihm zu diesem Stück eingeladenen Video-Künstler Evi Jägle (sie schreibt gerade an ihrer Philosophie-Promotion über den französischen Philosophen Gilles Deleuze) und Jan Barner (in Berlin lebender Künstler, Designer und Therapeut). Jägle und Barner kollaborieren bereits seit Jahren, sie zeigten ihre gemeinsamen Arbeiten unter anderem im Wiener Sehsaal.

In diesem halbstündigen Stück nun treffen zeitgenössischer Tanz, mit Algorhythmen generierte Video-Installationen und philosophisch-psychoanalytische Betrachtungen, die Gilles Deleuze und Pierre-Félix Guattari in ihrer Schrift „Kafka. Für eine kleine Literatur“ über das Werk von Franz Kafka zusammenstellten, aufeinander. Der selbst versuchte mit seiner Schrift „Für eine kleine Literatur“ seine Werke der Literaturgeschichte zu entziehen und sie zur »Angelegenheit des Volkes« zu machen.

(c) Nadine-Melanie Hack

„Die Ausdrucksmaschine“ ist vollkommen überladen. Recht schnell folgt auf die Ernüchterung, der Fülle an textlichen, visuellen und akustischen Informationen und Reizen auch mit bestem Willen nicht folgen zu können, die Fokussierung auf einzelne Elemente. Genießt man, zum Beispiel, allerdings die (auch in den Wortsinnen) fantastischen Video-Installationen von Evi Jägle/Jan Barner, und hier auch nur eine der drei parallel gezeigten, geraten die anderen beiden Projektionen sowie Text und Tanz zu Belästigungen.

Die Flut der Reize und das aufkommende Gefühl des Nicht Genügens erzeugen Unbehagen. Und bald scheint der ausgeprägte Narzissmus der zwei Nicht-Tänzer ausgemachte Sache zu sein. Hiermit aber könnte sich ein im Programmzettel formulierter Ansatz der drei Künstlerinnen und Künstler manifestieren: „Wir denken, dass Theorie und Tanz zusammengehören – nicht als Erklärung, sondern als Störung.“

Solcherlei Störungen prasseln pausenlos auf uns ein. Dem ständigen und sich beschleunigenden Wandel in vielen Bereichen des Lebens, Technologie, Kommunikation, Ökonomie, Gesellschaft, Politik, auch in den kleinen sozialen Gemeinschaften und im ganz Privaten, und der sich exponentiell entwickelnden Flut an Daten, Informationen und Reizen begegnet die Masse mit kritisch nur unzureichend reflektierter Hingabe oder, so ein anderer Pol, mit Widerstand, gespeist von dem Gefühl hilflosen Ausgeliefertseins.

Die tatsächliche oder zuweilen mehr empfundene Notwendigkeit, trotzdem funktionieren zu müssen, bringt das Individuum über die Grenzen seiner psychischen und physischen Widerstandskraft. Der Eindruck, den mannigfaltigen Anforderungen der Umwelt nicht oder nicht mehr entsprechen zu können, verstärkt sich kontinuierlich. Das fundamentale Gefühl des Nicht Genügens gedeiht prächtig.

Der Frage von Schuld und Verantwortung dafür wird verschieden begegnet. Die totale Verunsicherung, die Ardan Hussain in seinen eingestreuten, die Verlesung der Texte von Deleuze/Guattari störenden Fragen bezüglich seiner Person und seines Verhaltens demonstriert, hat depressive Züge, die das Manische im faszinierenden Bilder-Bombast der Video-Installationen konterkarieren. Einzig der am Rand sitzende Jan Barner, er malt unablässig Kleinformatiges auf aus dem Himmel hängenden Endlospapier, repräsentiert Gelassenheit, mit der er allen ordnenden Versuchen, den intellektuellen der Philosophen und den emotionalen des Tänzers, sie (und also sich) beobachtend begegnet.

(c) Nadine-Melanie Hack

Die in den Video-Animationen, dem Bühnen-Setting mit seiner vorübergehend aus Umzugs-Kartons errichteten Wand (nach deren Abbau wird dann weiter geschichtet und gestapelt), im Tanz und mit der endlosen Abfolge und Zahl von Malereien postulierte Welt von Virtuositäten, die, weil sie notwendiger Weise unvollkommen sind, auch unvollkommen kommunizieren, ist die sich störende und also gestörte, unvollkommene Welt. Sie ist wie eine Maschine, die unablässig neuen Ausdruck in Form von temporärer Materialität produziert.

Das nach Halt und Stabilität dürstende Individuum steht somit vor einer unlösbaren Aufgabe. Es fühlt sich wie die Figuren in den Romanen Franz Kafkas. Sie geraten in scheinbar absurde Situationen und Umstände und verlieren jede Orientierung in ihrer Werte- und physischen Welt. Solchermaßen verwirrt und mit existenziellen Fragen konfrontiert fühlt man sich auch am Ende der Performance „Die Ausdrucksmaschine – ein choreographierter Prozess nach Kafka“.

„tripLe yOu – the Freud Experience“

Ausgehend von Sigmund Freuds Strukturmodell der Psyche mit Über-Ich, Es und Ich installieren das Team von orgAnic reVolt und Regisseur Ernst Kurt Weigel mit den Tänzerinnen Leonie Wahl, Bianca Anne Braunesberger und Hannah Timbrell, den Guides Ernst Kurt Weigel, Ylva Maj und Kajetan Dick und den sphärischen Klängen von Bernhard Fleischmann in drei Räumen des OFF-Theaters ein immersives Setup. Kleingruppen von jeweils drei Besuchern werden informiert, angeleitet und eingestimmt auf eine ganz besondere individuelle Erfahrung. Und dann mit ihren psychischen Instanzen konfrontiert.

Das Über-Ich, unsere inneren Moralvorstellungen, Werte und Ideale, geprägt durch Erziehung und Sozialisierung, tanzt in einem plexi-gläsernen Würfel und nur leicht bekleidet (Leonie Wahl). Verführerische und verlockende Gesten, direkte Ansprache der „Außenstehenden“. Sie geht ins Spüren momentaner und konsolidierter Befindlichkeiten, auch oder sogar insbesondere der Schuldgefühle, spiegelt diese, provoziert auch jenes „Das gehört sich nicht“ der internalisierten Moralvorstellungen. Wunderbar.

(c) Nadine-Melanie Hack

In der zweiten Station gilt es, sich in völliger Dunkelheit mit seinem Es zu konfrontieren. Eine schwach leuchtende Taschenlampe mit sehr fokussiertem Strahl, geführt von einem der drei Suchenden, dient als Scheinwerfer in die Finsternis der Seele. Kurze Laute deuten auf die Existenz von dort Verstecktem. Das sanft leuchtende, unruhig irrende Rechteck lässt bald Körperfragmente erkennen. Die Tänzerin Bianca Anne Braunesberger nähert sich am Boden.

Ein kriechendes Wesen, Geräusche aus wechselnden Richtungen und Entfernungen. Und vielleicht eine leise Berührung an der Stirn, eine Berührung am Bein. ES taucht auf, unerwartet, unvermittelt, unkontrollierbar, so wie Triebe, Wünsche und Bedürfnisse aus ihrer dunklen, unbekannten, teils gefürchteten Quelle, aus unserem Unbewussten. Und es verschwindet wieder in unsehbaren Weiten.

Das Ich sitzt uns in Person der Tänzerin Hannah Timbrell gegenüber. Im Dirndl. Anfangs das Verhalten, die Worte und Gesten des einen von den Dreien auserwählten Gegenübers spiegelnd, konfrontiert sie einen mit sich selbst, macht Habitus, Mimik und Gestik bewusst, verunsichert, irritiert. Das Ich, der bewusste Teil, der die Realität wahrnimmt und Entscheidungen trifft, steht zwischen Es und Über-Ich und sucht nach einem für beide akzeptablen Kompromiss (das Realitätsprinzip).

(c) Nadine-Melanie Hack


 „tripLe yOu – the Freud Experience“ (c) Nadine-Melanie Hack

Sie löst sich aus ihrer Rolle, gleitet in einen weichen, gefühlvollen Tanz gen Tür. Berührend! Und sie lässt damit die mit ihrem Kostüm repräsentierten überlieferten, psychisch geerbten Mechanismen des Umgangs mit der Welt hinter sich. Sie weist einerseits auf die Notwendigkeit der Übernahme der Verantwortung für sich selbst und zudem auf die Möglichkeit des Brechens mit Traditionen und so mit dem ewigen Fortbestand uralter gelebter (scheinbar also bewährter), häufig jedoch ungeeigneter Reaktions- und Handlungsmuster. Wundervoll!

Timbrell zeigt uns uns selbst. Hoch professionell, sensibel erspürend und schonungslos spiegelnd. Gemeinsam mit ihrem Tanz eine starke, leider nur kurze Performance. Die wirkungsvollste der drei Stationen/Instanzen. Das aber ist eine sehr persönliche Wahrnehmung dieser nur 20 Minuten dauernden, sehr gelungenen „Show über sich selbst“. Denn sie klingt nach. In jedem anders.

„What if…“

Die Choreografin Emmanuelle Vinh ist bereits das zweite Mal mit einer Produktion von OFFTANZ Tirol bei TANZ IM OFF zu Gast. Ihr Solo für eine Frau wird performt von Tamara Maksymenko (Tänzerin, Dozentin für zeitgenössischen Tanz und Organisatorin eines Festivals für zeitgenössischen Tanz in Tirol). Silke Gruber ließ sich für ihre eingespielten deutschsprachigen Texte von feministischen (Vor-) Kämpferinnen wie Simone de Beauvoir, Rebecca Solnit und Virginia Woolf inspirieren.

Musik und Sounds stammen von Andreas Tentschert, der zur Einstimmung mit dem Schlager „Wenn die Elisabeth nicht so schöne Beine hätt’“ von Siegfried Arno aus dem Jahr 1930 die so niedlich vertonte Stimme des Patriarchats hören lässt. Und mit den vielen aufgehängten Betttüchern und ihren nackten, mit roten High Heel noch gepimpten Beinen kokettiert eine Frau mit dem Publikum.

Das Bühnenbild und die Performance Maksymenkos zeigen den Alltag vieler Frauen. Weltweit. Hausarbeit, schwere körperliche Plackerei, Erschöpfung, Entmutigung, Schuldgefühle, Wut. Manchmal auch Auflehnung, immer häufiger (und not-wendiger:) Rebellion. Die eigentliche Performance aber spielt sich im Kopf ab, induziert durch die umfänglichen Texte, die als vorgefertigte Sprach-Choreografie eingespielt werden.

Philosophische Betrachtungen, literarische Texte, psychologische Analysen, eine Unmenge von mühevoll recherchierten Zahlen, Daten und Fakten (zum Teil auch projiziert) zur ökonomischen und gesellschaftlichen Situation von Frauen und ganz Persönliches in einem hinten zu hörenden Dialog zweier Frauen dringen nach und nach ins Hirn und dann ins Herz der Zuschauenden und Zuhörenden. Immer deutlicher melden sich Gerechtigkeitssinn, Scham und Schuldgefühle aus den Tiefen eines mit Gewohntem, Ignoriertem und Kleingeredetem betäubten Gewissens.

(c) Nadine-Melanie Hack

Die historische Einordnung der Frau in eine männlich dominierte Welt, die heutigen Repräsentationen sozialer, gesellschaftlicher und ökonomischer Benachteiligung und anhaltender Diskriminierung von Frauen, die intimen, auch humorvollen Einblicke in weibliche Identitäten, die sich mit den Generationen entwickelnde und verändernde Selbst- und Fremd-Wahrnehmung von Frauen, die tief in Kultur, Sprache, Medien und Diskurse eingegrabene Entwertung der Frau beeindrucken in dieser hier erzeugten Konzentration besonders.

Kein Aspekt bleibt unberührt. Auch das körperlich-hormonelle Anderssein der Frau, anders also als der alles normierende, überall als Maßstab geltende Mann, wird sichtbar gemacht. Es sollte Blut fließen aufhängende weiße Leintücher. Aber Theater ist ein vielseitig forderndes Handwerk. Und live. Es sollte vor uns hängen die Menstruation. Und die häusliche Gewalt gegen Frauen. Und Vergewaltigung in der Ehe. Und Trophäen, nach Hochzeitsnächten stolz geschwenkt als schlafgemächliches Vermächtnis. Wie komplex allein dieses Bild. Die in die Ehe gebrachte „Reinheit“ der Frau, ihre Unterwerfung unter den Mann, die Zementierung dieses Frauenbildes und des Machtanspruches des Mannes in Familie und Gesellschaft. Und so weiter und so fort …
 „what if…“ (c) Nadine-Melanie Hack

Die faktische Fülle, die das Stück liefert, ist erdrückend, das von Tamara Maksymenko getanzte/performte physische und psychische Leid berührend. Sehr erhellend, zum Beispiel, sind auch die Spiegelung der Frauen- und Mädchen-Krankheit Bulimie auf den Mann mit all ihren Ursachen und Wirkungen und die Umkehr vieler so gewohnter Floskeln wie Karriere- oder Power-Frau in einen solchen -Mann. Die Liste ist lang. In die Sprache wie in ein gemeinschaftliches zuhause eingezogenes Denkmuster entlarvt dieses Stück als kaum noch wahrgenommene und identifizierte Erreger der zerstörerischen Seuche der Menschheit: des Patriarchats.

Feministische Theorie trifft in „What if…“ den Alltag und wird durch diesen zu Erfahrung. Das etwa 70-minütige Stück schärft Aufmerksamkeit und Wahrnehmung, adressiert Ratio und Emotio gleichermaßen, appelliert mit der final gezeigten Auflehnung, sie steht wie eine Jeanna D’Arc auf der Barrikade, aufgetürmtes, Jahrtausende währendes Leid und Unrecht unter ihrem stolzen, kämpferischen Körper, an alle, auch die Männer. Weil es sie nicht anklagt. Es beschreibt, für Hirn und Herz verständlich. Und Hoffnung ist, wenn eine sich erhebt.

Im zweiten Block des Festivals, am 18. und 19.12.2025, wird mit dem Duett „The Summit of Emptiness“ der Tanz Company Gervasi an beiden Tagen das tänzerische Highlight dieser Veranstaltung präsentiert. Weiters werden zu sehen sein das Solo „Counterpoise“ von Julia Mariacher und das Duett „In Conversation“ vom Lîla Collective (Betty Pester & Lio Jakob) am 18. und die beiden Soli „Plane planets“ von Carla Schuler und „Garden“ von Mami Kawabata am 19.12.

Acht Arbeiten also zeigt(e) TANZ IM OFF III, sehr unterschiedliche Positionen zeitgenössischen Tanzschaffens, Genregrenzen mit Leichtigkeit überschreitend oder Tanz in seiner reinsten, höchsten Form, frontal präsentiert oder als immersive Installation innere Räume öffnend. Mit der Bandbreite der angesprochenen Themen hoch interessant, teils ungemein anspruchsvoll und zuweilen lange nachklingend. Jedenfalls aber: äußerst sehen- und erlebenswert.

Rando Hannemann 18. Dezember 2025

Besonderer Dank an unsere Freunde und Kooperationspartner vom MERKER-online (Wien)


Tanz im Off III
Musik und Sounds stammen von Andreas Tentschert
Festival für zeitgenössischen Tanz 2025

Off Theater Wien