Esbjerg hat es wieder getan: In einer Hafenstadt mit kaum 70.000 Einwohnern wagt man gemeinsam mit zahlreichen Sponsoren, was viele große Opernhäuser scheuen – den kompletten Ring. Gestern feierte mit der Götterdämmerung (Ragnarok) der vierte und letzte Teil Premiere, und ich durfte dabei sein.
Schon der Rahmen machte den Abend besonders: ein Freigetränk im Streetfood-Areal des in unmittelbarer Nähe des Musik Huset gelegenen ehemaligen Theaters, kostenlose Parkplätze und ein Gratis-Programmheft (auf Dänisch, aber mit dem gesamten Libretto auf Deutsch). Es fühlte sich mehr nach Festival als nach elitärer Opernveranstaltung an: herzlich, offen, unkompliziert.
Ein Dirigent zum Anfassen

Dirigent und Opernchef der Den Ny Opera, Lars Ole Mathiasen, verkörperte diese Volksnähe geradezu exemplarisch. Noch am Vorabend verschickte er selbst Pressefotos und informierte die Zuschauer per E-Mail über Parkmöglichkeiten und Speiseoptionen während der langen Pause. Kurz vor Beginn der Vorstellung stand er noch freundlich, nahbar, fast wie ein Gastgeber, barfuß im Foyer. Wenige Minuten später hob er – wohl ebenfalls barfuß – im Orchestergraben den Taktstock.
Die Aufführung selbst bot reichlich Stoff zum Schmunzeln wie zum Staunen. Der Hauptvorhang wirkte dabei eher wie ein zu groß geratenes Bettlaken, die Obertitel waren nur auf Dänisch verfügbar, und nur gelegentlich waren deutsche Halbsätze aus den Kehlen der Sänger zu verstehen. Kurz vor Ende des ersten Akts schlief im Publikum jemand hörbar schnarchend ein, und just während Siegfrieds Tod platzte eine Durchsage aus einem Funkgerät von der Seitenbühne in die Szene. Wagner konnte gestern auch unfreiwillig komisch sein, aber immerhin vernahm ich im Publikum kein einziges klingelndes Handy.
Die Regie

Kasper Wilton, seit 2017 Regisseur aller vier Ring-Abende, blieb der Originalgeschichte weitgehend treu, setzte aber auch zahlreiche eigene Akzente. So traten Hagen und Brünnhilde wiederholt als Kinder auf, und in der Nornenszene des dritten Akts wurden Siegfrieds vermeintliche Träume äußerst fantasievoll im Hintergrund dargestellt. Während man hier fast schon von Reizüberflutung sprechen konnte, gerieten andere Szenen etwas aktionsarm. Die wichtigsten Requisiten kamen jedoch alle zum Einsatz: Horn, Schwert, Speer, Tarnkappe und Ring. Die Chorszenen wirkten wie unbewegte Tableaus, doch es gab auch viele eindrucksvolle Bilder, wie den dichten Bühnennebel mit feuriger Illumination im Finale. Einige Regieeinfälle entfalten vermutlich erst im Zusammenspiel aller vier Abende ihre volle Wirkung. Zyklische Aufführungen sind zwar noch nicht gesichert, aber für 2028 in Planung. Bühne und Kostüme stammten von Marie í Dali. Die Szene war geprägt von grauen Wänden und Säulen: streng, kühl, abstrahierend. Die Kostüme erinnerten meist an mittelalterliche Gewänder in gedeckten Farben, aber teilweise auch an heutige Kleidung.
Klangzauber im Graben
Musikalisch wurde der Abend zu einem Ereignis. Der Orchestergraben wurde für diese außergewöhnliche Ring-Produktion nach Bayreuther Vorbild umgebaut, und man hörte sofort den Unterschied zu anderen Häusern: Das im 130 Kilometer entfernten Sonderburg beheimatete Sønderjyllands Symfoniorkester, für die Produktion von 65 auf gut 100 Musiker verstärkt, spielte unter Mathiasens Leitung mit atemberaubender Transparenz und großer Intensität. Besonders im Trauermarsch, visuell untermalt von der Projektion einer Mondfinsternis, verband sich große Dramatik mit feinem Klang zu einem überwältigenden Moment. Mathiasen gelang es gemeinsam mit den Musikern Monumentales und Kammermusikalisches miteinander zu verweben.

Vokale Freuden
Die Sängerriege ließ unter diesen superben Bedingungen auch keine Wünsche (von der zuvor bemängelten Deklamation mal abgesehen) offen: Trine Bastrup Møller bestach durch eine außergewöhnliche Klarheit und mühelose Strahlkraft in der Höhe. Sie sang die Brünhilde mit absoluter stimmlicher Sicherheit voller Wärme, Verletzlichkeit und innerer Stärke. Die Sopranistin verstand es, auf die besondere Akustik des Hauses einzugehen und wartete auch mit zarten Piani und geschmeidiger Stimme auf, was bei den großen Wagner-Rollen in dieser Zartheit sonst nur äußerst selten zu hören ist. Dabei ging sie auch schauspielerisch in ihrer Rolle auf und verlieh der Figur zugleich berührende menschliche Emotionen und eindrucksvoll heroische Züge. Anders Kampmann schien keinerlei Ermüdungserscheinungen zu kennen. Kraftvoll und zugleich frisch im Klang verlieh er Siegfried bis zur letzten Minute den nötigen vokalen Aplomb und kam auch darstellerisch äußerst agil daher. Unglaublich, aber wahr: In diesen Tagen singt er an der Jyske Opera auch den Alfredo in La Traviata. Rúni Brattaberg gab mit wuchtiger Tiefe und sonorer Stimme einen imponierenden Hagen. Bei ihm hatte man dazu am ehesten den Eindruck, dass er tatsächlich deutsch sang. Der Gunther von Jens Søndergaard bestach durch ein elegantes Timbre und eine unwiderstehliche Noblesse. Auch seine Interpretation zeichnete sich durch eine klare Artikulation aus. Er ließ die komplexe Persönlichkeit des Gunther durch tiefes emotionales Engagement lebendig werden. Mit eindringlichem, aber niemals schrillem lyrisch-dramatischem Sopran gab Cornelia Beskow sowohl Gutrune als auch der dritten Norn jeweils ein beeindruckendes Profil. Unerwartete Ausbrüche gelangen ihr kontrolliert und effektvoll aus melodiös strömendem Gesang heraus. Jesper Buhl gestaltete den Alberich mit einem markanten, kernigen Bariton, der sowohl mit Kraft als auch mit schneidender Schärfe überzeugte. Dorrotya Lang gestaltete Waltraute und die 1. Norn souverän, Sofie Lund überzeugte als Woglinde, Francine Vis als Wellgunde, und Johanne Højlund setzte als Flosshilde und 2. Norn markante Akzente.

Die Premiere der Götterdämmerung in Esbjerg geriet zu einem erinnerungswürdigen Abend von packender Kraft. Dass eine Stadt wie Esbjerg dieses Mammutprojekt trägt, wirkt wie ein kleines Wunder. Doch wer dort war, versteht: Hier schlägt ein Ring, der sich nicht mit Bayreuth messen muss, weil er längst seine eigene Geschichte schreibt.
Marc Rohde, 25. August 2025
Götterdämmerung (Ragnarok)
Oper in drei Akten von Richard Wagner, Libretto vom Komponisten
Den Ny Opera Esbjerg
Premiere am 24. August 2025
Regie: Kasper Wilton
Musikalische Leitung: Lars Ole Mathiasen
Sønderjyllands Symfoniorkester