Ist es nicht bemerkenswert, wie oft bei der Beschreibung des Neuen das Alte als Vergleich herangezogen wird? So erinnern Ulrich Schreiber in seiner „Kunst der Oper“ die „schwebenden Klänge“ von Aribert Reimanns Musik zu Melusine an Debussy. Die Titelfigur, meint er, verbinde Bergs Lulu mit Debussys Mélisande. Die Uraufführungsrezension von Wolfram Schwinger in der ZEIT sah überhaupt das Vorbild Alban Berg allenthalben hervorscheinen. Das (wie immer sorgfältig zusammengestellte) Begleitheft zur Frankfurter Neuproduktion fühlt sich bei der zentralen Liebesszene an den zweiten Aufzug von Tristan und Isolde erinnert.
Unter uns gesagt: Mich erinnert dieser Reimann vor allem an Reimann. Bereits diese seine zweite Oper von 1971 ist von formalen und musikalischen Charakteristika geprägt, die sich im gesamten Musiktheaterschaffen des Komponisten wiederfinden. Zunächst: Es handelt sich wie stets bei Reimann um eine Literaturoper. Das Frankfurter Publikum durfte bereits einige herausragende Beispiele dafür kennenlernen, vom Lear im Jahr 2008, über die Medea 2011 und die Gespenstersonate 2014 bis zur gerade erst zwei Monate zurückliegenden Produktion des Spätwerks L’invisible. Wie in den anderen Werken weist die Orchesterbehandlung bei Melusine dichte Cluster, aber auch klare, melodiöse, freilich atonale Passagen auf. Für letztere bieten eine Altflöte und eine Solo-Bratsche markante Klangfarben.

Zuletzt hatte ich zu L’invisible bemerkt: „Reimann schrieb immer für und nicht gegen die menschliche Stimme.“ Das gilt auch für Melusine. Gleichwohl dürfte es sich bei der Titelrolle um eine der anspruchsvollsten Partien für einen Koloratursopran in der Operngeschichte handeln, deren Stimmakrobatik gegenüber den kunstvollsten Belcanto-Partien noch mit der Schwierigkeit versehen ist, daß sie in Atonalität, ohne jeden harmonischen Ankerpunkt stattfindet. Anna Nekhames bewältigt diese Schwierigkeiten mit der Selbstverständlichkeit, die zu jeder großen Kunst gehört: das Schwere leicht erscheinen lassen. Wichtiger noch: Sie zeigt, wie genau diese Musik ihre Figur charakterisiert, und sie verbindet ihren elaborierten Gesangspart mit adäquater schauspielerischer Gestaltung zur Einheit. Schon ab der ersten Sekunde ihres Auftritts wird klar, daß Melusine nicht von dieser Welt ist. Hier hat sich eine Nymphe aus mythologischen Sphären in die – nein, nicht Gegenwart, sondern eine nicht weiter zeitlich definierte Zukunft verirrt.

Christoph Fischer hat wie zuletzt für Don Perlimplín und Ascanio in Alba im Bockenheimer Depot eine Raumskulptur geschaffen, welche die Produktion visuell prägt. Wie in einer Arena sind die Zuschauerplätze rings um eine scheibenförmige Bühne angeordnet. Darüber schwebt eine futuristische Ringkonstruktion wie eine Weltraumstation, in der Mitte darunter befindet sich ein unnatürlich grünes Bäumchen in ansonsten aseptisch weißer Umgebung. Es wirkt wie ein künstlich am Leben gehaltener musealer Vegetationsrest nach einer Ökokatastrophe. Die Kostüme von Lorena Díaz Stephens unterstreichen das futuristische Ambiente und erinnern an Luc Bessons Ausstattung zu Das fünfte Element mit ihrer Verbindung von futuristisch-phantastischer Mode und Design mit sciencefictionhafter Technik.
In der literarischen Vorlage von Yvan Goll aus den 1920er Jahren ist das Stück im Frankreich des frühen 20. Jahrhunderts angesiedelt. Der Makler Oleander hat Melusine geheiratet, die Tochter seiner vormaligen Geliebten Madame Lapérouse. Zu dritt leben sie in einer Villa am Rande eines verwilderten Parks. Die junge Frau entzieht sich ihrem Ehemann und verbringt ihre Tage naturschwärmerisch im Park. Tatsächlich ist sie die Tochter eines mythischen Wesens, des Oger, und gehört damit selbst der Geisterwelt an. Im Park hat sie Verbindung zu Pythia, einem Naturgeist, unter deren Einfluß sie steht. Als der Park für den Bau eines Schlosses des Grafen von Lusignan gerodet werden soll, betört und verwirrt Melusine mithilfe eines von Pythia bereitgestellten Kleides mit Fischschwanz die mit Rodung und Bau beauftragten Geometer, Architekt und Maurer, kann aber die Zerstörung des Natur nur verzögern. Schließlich begegnen sich Melusine und Graf bei der Einweihungsfeier des Schlosses und entbrennen in Liebe zueinander. In einer gemeinsamen Nacht verliert Melusine ihre Jungfräulichkeit. Damit ist das Ende der Geisterwelt besiegelt. Pythia legt Feuer in dem Schloss, das Liebespaar kommt darin um.

Man darf dem Produktionsteam um Regisseurin Aileen Schneider dafür dankbar sein, daß es diese „Umweltschutz-Parabel ante festum“ (Ulrich Schreiber) nicht politisch aufgeladen hat, sondern tatsächlich als Märchen erzählt, nämlich als Science-Fiction-Fantasy-Märchen. Die Botschaft stellt sich von alleine ein. Ein paar symbolische Hinweise dürfen es trotzdem sein. So etwa treten die namenlosen Vollstrecker der Naturzerstörung (Geometer, Architekt, Maurer) mit Arbeitsmasken bzw. Brillen auf. Durch diese sehen sie nur ihre funktionale, technische Welt. In der Begegnung mit Melusine nehmen sie diese technischen Sehbehinderungen ab. Daß sie nun empfänglich für den Blick auf die Natur werden, ist ambivalent. Was die Regie als Erkenntnisprozeß anlegt, bringt den Betroffenen Verwirrung bis hin zum Tod.
In den ersten beiden Akten geben mitunter satirisch angespitzte Dialoge das Tempo vor. Die Regie nimmt es mit spielfreudigen Darstellern auf, so daß die Zeit bis zur Pause wie im Flug vergeht. Dabei wird vorzüglich gesungen, so von Jaeil Kim mit jugendlich frischem Tenor als Oleander, Cecilia Hall mit attraktivem Mezzo als Madame Lapérouse und Dietrich Volle als nuanciert artikulierendem Geometer. Mit sattem, rundem Ton zeigen Zanda Švēde als Pythia, Frederic Jost als Maurer und Andrew Kim als Architekt, wie sehr gerade Neue Musik von prachtvollen Stimmen profitiert (einmal mehr bedauert man, daß für Jost im Frankfurter Ensemble kein Platz frei zu sein scheint). Als neue Figur tritt nach der Pause noch Melusines Vater, der Oger auf, dem Morgan-Andrew King seinen kernigen Bariton leiht.

Im zweiten Aufzug kommt die Handlung durch die zentrale Liebesszene zwischen Melusine und dem Grafen zur Ruhe. Hatte man bis dahin den Orchesterpart über weite Strecken lediglich als untergründigen Soundtrack wahrgenommen, erscheinen die 33 Musiker nun unter der souveränen Leitung von Karsten Januschke als gleichrangiger Akteur. Auch Anna Nekhames darf sich von den Koloraturen und Intervallsprüngen erholen. Im Duett mit ihr setzt Liviu Holender seinen warmen Bariton für den Grafen von Lusignan so sanft und schmeichelnd ein, daß man seine Eigenschaft als Urheber der Naturzerstörung ganz vergißt. Ihm gelingen dabei geradezu zärtliche Piani. Den Liebestod erleidet das Paar schließlich gemeinsam im von Pythia gelegten Feuer, welches der Bühnentechnik Anlaß zum großzügigem Einsatz einer Nebelmaschine gibt.

Im Bockenheimer Depot ist wieder ein herausragender Musiktheaterabend gelungen, bei dem ein außergewöhnliches Bühnenbild und fantasievolle Kostüme den äußeren Rahmen für intensives Spiel und prachtvollen Gesang eines ohne Abstriche vorzüglichen Ensembles geben.
Michael Demel, 9. Juni 2025
Melusine
Oper in vier Akten von Aribert Reimann
Oper Frankfurt im Bockenheimer Depot
Premiere am 6. Juni 2025
Inszenierung: Aileen Schneider
Musikalische Leitung: Karsten Januschke
Frankfurter Opern- und Museumsorchester