Frankfurt: „Norma“, Vincenzo Bellini

Musiktheater vom Allerfeinsten und Fesselndsten!

„Das Dramma per musica muss einen zu Tränen, zum Schauder, zum Sterben bringen“, wird der Komponist Vincenzo Bellini im erneut äußerst informativen Programmheft der Oper Frankfurt zitiert. Dieser kategorischen Aufforderung des Komponisten von Norma kam die Dernière der Wiederaufnahmeserie auf schlicht überwältigende Art und Weise nach. Gerade der letzte Teil rührte tatsächlich zu Tränen – der Schauder war vorangegangen.

Dass Norma zu den bewegendsten, schauerlichsten und vollkommenen Opern des Repertoires gehört, steht außer Zweifel – und nach dieser Aufführung erst recht! Die kosovarische Sopranistin Marigona Querkezi erfüllte die riesigen Ansprüche der enorm fordernden Titelpartie mit ihrer großen, voluminösen Stimme, welche neben aller Kraft für die Ausbrüche auch die perfekte Technik für getragene, sublime Piani und langgezogene Phrasen mit den entsprechenden Verzierungen mitbrachte. Ihre wunderbar samtene, dunkle Sopranstimme entfaltete sich mit aller Pracht und einem ganz speziellen Leuchten und Blühen. Zum Niederknien schön. Dabei stellte sie den reinen Belcanto-Gesang immer in den Dienst des Dramas, es blieb in keinem Moment beim selbstverliebten Schöngesang um des Schöngesangs willen. Genau so muss Bellini sich das vorgestellt haben, als er seine oben zitierte Forderung aufstellte.

Das Glück dieser Aufführung bestand darin, daß sich die übrigen Protagonisten mit ihrer fantastischen Gesangs- und Darstellungskunst ausnahmslos in den Dienst dieses Dramas stellten. Die junge polnische Mezzosopranistin Karolina Makuła aus dem Frankfurter Ensemble, rührte als verletzliche Adalgisa mit ihrem warmen, virtuosen und schlank geführten Mezzo tatsächlich zu Tränen, die Verschmelzung mit der Stimme von Marigona Quekezi in den langen, so wunderschön komponierten Duetten gelang perfekt. Stefano La Colla auf der Bühne erleben zu dürfen, ist immer ein Glücksfall, vor allem, wenn man nicht damit gerechnet hat. Er sprang nämlich für den erkrankten Angelo Villari ein. La Colla war aber mit der Inszenierung bestens vertraut, hatte er doch schon 2018 in der Premierenserie die Rolle des Pollione interpretieren dürfen. Wieder begeisterte er mit seiner fest und sicher sitzenden Stimme, der mühelos strahlenden Höhe, dem berückenden Timbre. Im Duett mit Adalgisa Va, crudele lieferten sich Stefano La Colla und Karolina Makuła einen hoch spannenden Wettstreit.

© Barbara Aumüller

Ach, es wären noch so viele musikalische Höhepunkte aufzuzählen, die man an diesem außergewöhnlichen Abend erleben durfte: Das Geständnis Adalgisas, natürlich das Casta diva mit nachfolgender Cabaletta der Norma und die Duette und Kadenzen von Adalgisa und Norma. Vor allem aber bleibt die letzte halbe Stunde der Aufführung haften: Ab dem rasanten Duett In mia man alfin tu sei mit Norma und Pollione bis zum Finale auf dem Scheiterhaufen (hier ein Weltenbrand, den Norma mit der Fackel, die sie einem der Untergrundkämpfer entreißt, entfacht) sitzt man einfach nur noch gebannt auf der Sitzkante – Musiktheater vom Allerfeinsten und Fesselndsten!

Dazu trug natürlich der versierte musikalische Leiter der Aufführung, Giuliano Carella, entscheidend bei. Er führte das hervorragende Frankfurter Opern- und Museumsorchester mit straffer, vorwärtsdrängender Hand, liess kein Schleppen und keine Sentimentalitäten zu und bewirkt gerade dadurch ein „agitato“ des Dramas, das so richtig einfuhr. 

Inszeniert hatte Christof Loy im Bühnenbild von Raimund Orfeo Voigt. Die zeitlich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts angesiedelten Kostüme, mit Reminiszenzen an das 19. Jahrhundert (Flavios Mantel) hatte Ursula Renzenbrink entworfen. Es erging einem wie so oft, wenn man Arbeiten Loys begegnet: Männer in Anzügen in allen Schattierungen von Grau, die Frauen ebenfalls in Grau- und Schwarztönen, mit Ausnahme des schlichten weißen Kleids Adalgisas. Die Bühne war mit schmucklosen holzvertäfelten Wänden versehen, links ein Fenster, davor eine Bodenklappe, unter der Norma ihre Kinder versteckt. Zuerst denkt man: Nicht schon wieder! Doch was Loy wie stets aus der Nüchternheit des Settings mittels bärenstarker, überzeugender Personenführung herausholt, wischt alle Bedenken weg. Er findet tief hinein in die seelischen Befindlichkeiten der Protagonisten, wühlt in den Emotionen, holt das Innere nach Außen, so dass das packende Drama – hier in einer Art Rückzugsort der Partisanen – entsteht.

© Barbara Aumüller

Großartig, wie die Enge von Normas Zimmer durch Anhebung des Bodens und Senkung der Decke immer drückender wird, wie das fahle Licht (Olaf Winter) das Geschehen in eine Art Twilight-Zone rückt, wie einzig ein oranger Sonnenstrahl bei Guerra, guerra (hervorragend der Chor der Oper Frankfurt, einstudiert von Álvaro Corral Matute) etwas Hoffnung (oder vernichtendes Feuer?) durchs Fenster fließen lässt. 

Wie immer vergisst Christof Loy auch die mittleren und kleineren Partien nicht, weiß Geschichten und Hintergründe zu erzählen. Simon Lim als bassgewaltiger (dieses lang gezogene, sichere Aushalten der Töne: Wow!) Gründer der Widerstandsbewegung und Vater Normas wird genauso scharf gezeichnet wie der Leichenfledderer Flavio (mit schöner Tenorstimme: Abraham Bretón), der zu einem Abschnitt der Ouvertüre die Toten beraubt und von seinem Freund Pollione gemaßregelt wird. Dabei stolpern sie über die noch lebenden Frauen Norma und Clotilde – Pollione verliebt sich so in Norma und Clotilde ist die einzige Person, die somit Normas Geheimnis kennt.

Gerade in der Zeichnung der Clotilde geht Loy viel weiter als alle anderen Inszenierungen des Werks, die ich bislang erleben durfte. Julia Stuart macht großen Eindruck als gestrenge Aufseherin und Vertraute Normas. Hervorragend agieren auch die beiden Knaben der Kinderstatisterie Benedikt Alt und Jakob Fritschi als Kinder Normas. Sie sind älter als in üblichen Inszenierungen, Loy will damit nach eigenen Angaben dem Eindruck der „Niedlichkeit“ entgehen. Die Beziehung Normas zu den beiden an der Schwelle der Pubertät stehenden Jungs ist damit noch stärker ausgeprägt und sie kann den angedrohten Kindesmord nicht ausführen.

Fazit: Man ist erschlagen, geflasht – und sehr aufgewühlt! Musikdrama at it’s best! Zitat von Alfred Einstein (der Musikwissenschaftler) aus dem Programmheft: „Jemand, der aus einer Aufführung von Norma kommt und nicht bis zum Überfließen erfüllt ist von den letzten Seiten dieses Aktes, weiß nicht, was Musik ist!“

Kaspar Sannemann, 3. Juni 2025


Norma
Vincenzo Bellini

Oper Frankfurt

Besuchte Aufführung: 31. Mai 2025
Premiere: 12. Juni 2018

Inszenierung: Christoph Loy
Dirigat: Giuliano Carella
Frankfurter Opern- und Museumsorchester