Frankfurt: „Parsifal“, Richard Wagner (dritte Besprechung)

Kurze Vorbemerkung zur Quellen- und Rezeptionsgeschichte von Wagners Schwanengesang Parsifal. Nachdem die ersten Bayreuther Festspiele 1876 in einem finanziellen Fiasko geendet hatten, wollte Wagner mit „einer letzten Karte“, mit seinem „Weltabschiedswerk“ seine Festspielidee retten. Das ist ihm gelungen, denn seine Anhänger pilgern seit der Uraufführung 1882 oftmals in religiöser Verzückung auf den grünen Hügel, um das Werk zu erleben. Wagner hatte sich allerdings schon fast vierzig Jahre gedanklich mit dem Thema des Gralsritters beschäftigt. Für seinen Text nutzte er verschiedene Quellen, von Chrétien de Troyes‘ altfranzösicher Dichtung, die wiederum Wolfram von Eschenbach für seinen Parzival genutzt hatte, über buddhistische Ideen und Schopenhauers Gedanken zum Triebverzicht, zur Askese. Dazu kommen Quellen aus Indien (Wiedergeburt der Kundry, heilige Tiere), der walisische Roman Peredur, in welchem Frauenfiguren in unterschiedlicher Gestalt erscheinen und antike Heldenromane (Alexander der Große muss vor Feldzügen der „weiblichen Ablenkung“ entsagen). Alle diese Informationen werden im Programmheft der Oper Frankfurt in den Essays von Ella Wolf und Konrad Kuhn, den Gedanken von Pierre Boulez und im Interview mit Thomas Guggeis hervorragend zusammengefasst.

Die Wirkung des Werks auf die Zuhörer stößt entweder auf ungeteilte Zustimmung, gleich einer Offenbarung, auf kritische Distanzierung oder auf konsequente Ablehnung, ja geradezu auf Spott. Thomas Mann z.B. spricht von „Theater-Lourdes“, „Tiefgroteske“, „Wundergrotte für die Glaubenslüsternheit“ und sagt, dass nur die mythisierenden und heiligenden Kräfte der Musik es seien, die das Ganze nicht zu einem schaurig-scherzhaften Unfug machten. Daneben gab es natürlich eine ganze Reihe von Bewunderern der Partitur, so auch Claude Debussy („Parsifal ist eines der schönsten Klangdenkmäler“). Doch die Frage bleibt: Welche Intentionen verfolgte Wagner mit seinem Werk? Sicher wollte er nicht bloß einen Religionskitsch im Sinne der Oberammergauer Passionsspiele schreiben, obwohl die Oper stellenweise nahe daran vorbeischrammt. Seine Intentionen beschreibt er als „Rettung des Kerngedankens der Religion durch die Kunst“. Meinte er etwa sich selbst, wenn er im PARSIFAL „Erlösung dem Erlöser“ singen lässt? Ausgerechnet er, der seine Ehefrauen Minna und Cosima stets betrogen hatte, fleischlichen Genüssen durchaus zugetan war, sich gerne in Samt und Seide und Parfümwolken gehüllt hatte, sieht sich nun in der leidenden Rolle des Amfortas, mit Schuldgefühlen beladen und nun also Erlösung durch Askese suchend? Schwer vorstellbar. 

© Monika Rittershaus

Das fand wohl auch Kammersängerin Brigitte Fassbaender, welche den Parsifal in Frankfurt inszeniert hat. Sie und ihr Team (Bühne und Kostüme: Johannes Leiacker, Licht: Jan Hartmann, Dramaturgie: Konrad Kuhn) sehen nicht Amfortas, sondern Kundry, Wagners wohl rätselhafteste Frauenfigur, als Erlösungsbedürftigste an. Kundry wird im ersten Akt als verstockte Vagabundin gezeigt, oftmals unmotiviert laut lachend. Sie, die Wiedergängerin, die einst als Herodias den Erlöser am Kreuz verspottet hatte, die Heilkundige, die Medizin in moderner Verpackung für den leidenden Amfortas bringt (sie sagt zu Gurnemanz, die Medizin komme von „weiter her, als du denken kannst“). An dieser und anderen Stellen versucht Brigitte Fassbaender immer wieder, den Text mit Humor zu unterlaufen. Das gelingt nur beschränkt, da es zu einer wirklichen Persiflage dann doch nicht ausreicht, zu wenig ausgegoren gearbeitet ist. (Wagner hatte ja alles leicht Ironische und Humoristische aus Wolfram von Eschenbachs Vorlage herausgestrichen). Brigitte Fassbaender nun siedelt das ganze Geschehen in einer Art Internat oder Sanatorium an. Im ersten Bild bewirken schwarze Seitenwände mit weißen, sich verjüngenden Strahlen eine Fokussierung auf ein Gemälde Monets (die Seine bei Giverny) vor einer Grotte, im zweiten Bild befinden wir uns in einem Zimmer der Gründerzeit, die Gralsritter alle in Gehrock, sehen eben wie Professoren in einem Internat oder einem Sanatorium aus. Die Knappen sind aufmüpfig, treiben Unfug, anstatt zu beten. Im zweiten Bild will ein kleiner Zögling immer wieder den Ritualen ausweichen, wird stets eingefangen (man denkt an Angst vor Übergriffen, an Pädophilie, doch das wird nicht näher ausgeführt, vielleicht ist es doch bloß als kindlicher Übermut gemeint, jedoch ziemlich verstörend).

Auch in diesem Zimmer befindet sich eine gigantische Grotte (Ludwigs Schlösser Linderhof und Neuschwanstein lassen grüßen) in der Rückwand, darin ein riesiger, golden glänzender Kelch. Im zweiten Akt ragt ein gigantisches Bett mit Blumenranken aus der Grotte heraus. Klingsor, der Herr dieses Zauberreichs, tritt als Magier, als Zirkusdirektor auf. Mobile Scheinwerfer sind auf das rote Bett gerichtet. Darauf treten die Blumenmädchen auf, hier allerdings sind sie allesamt willige Bräute in weißen Brautkleidern aus verschiedenen Epochen, von solchen mit Puffärmeln bis zu solchen mit Strapsen und kurzen Röckchen. Auch dank der mobilen Scheinwerfer entsteht die Atmosphäre eines Pornodrehs. Im letzten Akt wieder die Szene wie im ersten Bild des ersten Aktes, nur hat das Gemälde Monets nun Brandlöcher und die eine Seitenwand sieht man nur noch als Gerüst.

Das Schlussbild schließlich spielt erneut im Gründerzeitsalon, der allerdings nun völlig ausgebrannt ist, die Stuckatur zerbröckelt und schwarz, die Tapete völlig weggebrannt. Es scheint, dass die gesamte Grotte nun das Zimmer in Beschlag genommen hat. Die Gralsritter wirken wie Zombies, sind mit Asche geschminkt, die Kleider angesengt. Titurel, der im ersten Akt noch mit Rollator und Hermelinumhang wie weiland König Ludwig II. aufgetreten ist, liegt nun als Asche in seiner Urne. Doch nun enthüllt Parsifal den Gral, Häppchen und Abschminktücher werden gereicht, es wird mit Sekt gefeiert, Amfortas und Kundry umarmen sich, ausgerechnet sie, die Verführerin, die einst schuld war an Amfortas‘ Wunde durch Klingsors Speer, wirft sich erneut in Amfortas‘ Arme (statt entseelt zu Boden zu sinken, wie in Wagners Regieanweisung), die beiden hüpfen wie ein jugendliches Liebespaar Hand in Hand von der Bühne. Selbstredend fliegt auch keine Taube vom Himmel. Bereits bei der ersten Enthüllung des Grals im ersten Aufzug ging’s recht lustig zu: Säcke voller bayerischer Brezn wurden als Abendmahl gereicht, auch Parsifal als unbedarfter Tor knabberte verstohlen daran. Interessant auch die Zeichnung des Gurnemanz: Lehrmeister und Hausmütterchen im Gehrock. Zu Beginn faltet er Wäsche zusammen, zieht im Rittersaal immer wieder die Tischdecke glatt und ist als einziger nicht zum Zombie geworden im Schlussakt. Zu den Vorspielen werden auf riesiger, rechteckiger Leinwand immer wieder die verschiedenen Gemälde Monets projiziert, welche die Fassade der Kathedrale von Rouen aus wechselnder Perspektive, mit wechselndem Licht und wechselnder Farbgebung zeigen. Gemäß dem Dramaturgen sollen diese Gemälde Monets auf das wechselnde Klangbild der Leitmotive in Wagners Partitur hinweisen. So wie Monet das Auge in der Kunst des Sehens schult, soll die Musik die Kunst des Hörens vertiefen. Das ist wie vieles andere an diesem Abend durchaus stimmig, und am allerwichtigsten ist, dass die Inszenierung, zwar nicht aufrüttelt und auch nicht wirklich Stellung bezieht, jedoch die Fokussierung auf die Musik auch nicht stört. Oder wie der Dirigent dieser Produktion, der Frankfurter GMD Thomas Guggeis, es ausdrückt: „Die Musik ist ein Vehikel für die möglichst eindringliche Übertragung einer Idee, eines dramatischen Gehalts, der vom Kopf her verstanden und vom Herzen aufgenommen werden soll – bei aller Problematik mancher inhaltlichen Konzepte Wagners.“

Und zu Herzen geht diese Musik dank der Interpreten wahrlich. Denn was Thomas Guggeis und das herausragend spielende Frankfurter Opern- und Museumsorchester während dieser fast fünfeinhalb Stunden (inklusive zweier Pausen) dauernden Aufführung leisten, ist schlicht überragend. Da versinkt man regelrecht im Klang, der ist erhebend, sakral, ganz gewaltig und doch von transparenter Schönheit geprägt. Obwohl Guggeis ein recht flottes Tempo vorlegt, hat man eher das Gefühl von Getragenheit, die Generalpausen scheinen im Vorspiel bis zur Grenze des Erträglichen ausgedehnt. Doch mit nüchterner Zeitmessung ist Guggeis eher bei Boulez (mit genau einer Stunde und 40 Minuten für den ersten Akt) als bei Knappertsbusch (fast zwei Stunden). Es wirkt einfach alles passend vom Timing her, nie zu langfädig oder zu süßlich, jedoch dem Weihevollen seinen Platz lassend. Schlicht fesselnd und packend. Mächtig und ergreifend singen der Chor und der Extrachor der Oper Frankfurt (einstudiert von Gerhard Polifka). Auffällig (und nach Angaben von Guggeis ein Verdienst auch der Regisseurin Brigitte Fassbaender, welche den Sängern gesagt haben soll: „Mach’s natürlich, erzähl’s einfach, denk nicht an den ganzen ideologisch aufgeladenen Ballast“) ist die exemplarische Diktion der Sänger. Das ist mir noch selten passiert, dass ich so aufmerksam den langen Erzählungen des Gurnemanz gelauscht habe, wie vorgestern dem Bass Andreas Bauer Kanabas, der für mich zum Star der Vorstellung wurde. Andreas Bauer Kanabas ist eh schon im Besitz einer wunderbaren Stimme, voller Eindringlichkeit und Tiefe, reich an Resonanz und doch klar fokussiert auf die Töne, die Linien. Das musikalische Porträt des Gurnemanz, das er hier zeigt, ist schlicht überragend. Eine stupende Durchdringung des Textes gepaart mit fantastisch sauberem Gesang. Herrlich! Dass die Oper Frankfurt praktisch alle Partien mit Ensemblemitgliedern (auch Andreas Bauer Kanabas gehört dazu) besetzen konnte, spricht für dieses Haus, das nicht umsonst schon mehrmals als Opernhaus des Jahres ausgezeichnet wurde. Nicholas Brownlee verleiht dem Amfortas unter die Haut gehende, schmerzerfüllte Töne, jedoch ohne zu chargieren.

© Monika Rittershaus

Großartig. Sein Vater Titurel wird von Alfred Reiter mit gekonnt brüchiger Stimme des dahinsiechenden alten Königs gegeben. In seinem Sessel dirigiert er wie Loriot als seniler Opa Hoppenstedt die Gralsmusik. Der abtrünnige Klingsor von Iain MacNeil klingt kernig, aber nie krächzend hässlich. Ein manipulativer Magier, ja, aber nicht mal so unsympathisch. Ian Koziera singt einen eher baritonal timbrierten Titelhelden, ist eine überaus passende Erscheinung des reinen Toren, blond, schlank, unbedarft staunend. Im Holzfällerhemd und kurzen Hosen tritt er auf, den erlegten Schwan wie eine Stola um die Schultern drapiert. Im zweiten Akt lässt er sich in schwarzer Kleidung mit glänzendem Brustpanzer auf das Spiel mit den Bräuten ein und singt dann seine große Szene mit der lockenden Kundry zusammen mit tragender Emphase. Einzig bei exponierten Höhen sucht er Zuflucht im Falsett. Im dritten Akt gemahnt sein Auftritt an den Wanderer aus Siegfried, mit Schlapphut und Speer. 

Jennifer Holloway zeichnet ein vielschichtiges Porträt der Kundry: Hure und Heilige, Männer verzehrender Vamp und im dritten Akt wie einst Maria Magdalena dienende Sklavin (Fußwaschung, wobei Parsifal dann seinen linken Fuß selbst wäscht). Oder wie Heinrich Heine in Atta Troll. Ein Sommernachtstraum schreibt: „Ob’s ein Teufel oder Engel, weiß ich nicht. Genau bei Weibern weiß man niemals, wo der Engel aufhört, und der Teufel anfängt.“ Im ersten Aufzug ist diese Kundry kaum fassbar, widerspenstig, hysterisch lachend und unzugänglich. Doch im zweiten Aufzug als ewig lockende Inkarnation des Weiblichen singt sie mit betörenden Phrasen, während sie im dritten Aufzug einzig zweimal einen Infinitiv singt: Dienen – dienen. Dass Brigitte Fassbaender dieses Wagnersche Frauenbild nicht so stehen lassen kann, ist nicht nur aus feministischer Sicht verständlich; das Bild der Frau als Opfer par excellence soll nicht noch zementiert werden. Deshalb kann man (Mann) ihre Entscheidung, der Kundry und dem Amfortas eine gemeinsame Zukunft jenseits von Monsalvat zu gewähren, gut nachvollziehen.

Das Publikum feierte alle Ausführenden (auch alle hier nicht namentlich erwähnten, souverän gestaltenden Interpreten der Knappen, der Gralsritter mit Solo und der Zaubermädchen) mit Beifall, der beinahe Orkanstärke erreichte.

Kaspar Sannemann, 4. Juni 2025


Parsifal
Richard Wagner

Oper Frankfurt

1. Juni 2025

Inszenierung: Brigitte Fassbaender
Musikalische Leitung: Thomas Guggeis
Frankfurter Opern- und Museumsorchester

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