Premiere am 02.05.2014
Realismus und Fantasie – beklemmende Zeitgeschichte
Mit seiner ersten Oper Nixon in China wurde John Adams zu einem bedeutenden amerikanischen Opernkomponisten, der sich auch in weiteren Werken ganz aktueller Themen annahm (zum Beispiel Klinghoffers Tod). Wenn auch das Geschehen um das Manhattan Projekt nun schon 70 Jahre zurückliegt, schufen er und sein Librettist Peter Sellars eine faustisch anmutende Figur der Gegenwart – oder einen neuen Zauberlehrling. Der Quantenphysiker Robert Oppenheimer treibt den ersten Atombombenversuch voran. Seine ängstlich hinterfragende Frau Kitty und sein Gegenspieler Edward Teller (der ist mit seinen Gedanken schon bei der thermonuklearen Waffe) gestalten mit ihm und weiteren historischen Figuren ein Drama auch um die Frage, darf man oder darf man nicht? Der im Dienst angstverbreitende militärische Leiter des Projekts General Leslie Groves menschelt im Privatleben; mit Robert Wilson (Spezialist für die Isotopentrennung) und dem Strahlungswissenschaftler Captain James Nolan gibt es zwei warnende Figuren; mit Jack Hubbard, dem Chefmeteorologen des Projekts, übernimmt das Libretto eine weitere historische Figur, die dem Stück eine gewisse Tragikomik verleiht. Mit dem indianischen Hausmädchen Pasqualita (erinnert an Wowkle aus der Fanciulla del West) wird als Kontrast eine naturverbundenen Person und Kultur in das Technik- und Männer-dominierten Szenario gesetzt. „Doctor Atomic“ wurde als Auftragswerk der San Francisco Opera dort 2005 uraufgeführt.
Dietrich Henschel (Oppenheimer)
Mit zweieinhalb Stunden reiner Spielzeit ist die Oper trotz ihrer Konzentration auf zwei Tage des Geschehens um Los Alamos und der Auswahl eines begrenzten Personaltableaus für ein zeitgenössisches Werk ziemlich lang. Das Werk spielt in an wenigen verschiedenen Orten und nimmt im zweiten Akt surrealistische Züge bei der Verschiebung von Ort und Zeit an. Der erste Akt spielt bei den Vorbereitungen einen Monat vor dem entscheidenden Test; der zweite am Tag des Tests selber. Das Libretto ist heterogen und besteht aus Lyrik-Zitaten von großer sprachlicher Tiefe und Schönheit, die mit Ausrissen banalster Art aus Regierungsdokumenten und Korrespondenz kontrastieren – je nach Situation und gerade aktivem Bühnenpersonal. Vordem realhistorischen Hintergrund der Handlung geht es in den sieben Bildern der Oper mehr um Tableaus mit charakteristischen Personen als um die lineare Nachzeichnung des Geschehens. Teile des Textes von Doctor Atomic sind nachträglich im Blick auf naturwissenschaftlich größere Korrektheit angepasst worden, nachdem es Kritik aus der American Physical Society gegeben hatte.
Dietrich Henschel (Oppenheimer); Anna Grevelius (Kitty Oppenheimer)
Die Regisseurin Lucinda Childs lässt das Geschehen in einer sehr realistisch gestalteten Szenographie des Ausstatters Bruno de Lavenère ablaufen, der auch die historisch authentischen Kostüme geschaffen hat und bei der Ausstattung große Liebe zum Detail beweist. Man sieht eine symmetrische Stahlkonstruktion mit vier Bühnen rechts und links, in der Mitte eine große Arbeitsfläche, die den Blick auf eine dahinter liegende Projektionsfläche freigibt. Auf einen Schleiervorhang, der dieses Bild von der Vorderbühne trennt, werden Formeln geworfen, die vor allem die Symbole chemischer Elemente enthalten, mit Vorliebe von Radionukliden und deren Zerfallsreihen. Bei geschlossenem Vorhang wird die Privatsphäre der Oppenheimers durch ein Sofa oder Schlafzimmermöblierung hergestellt. Mit teilweise drastischem Realismus sind die Figuren und ihre Triebkräfte gezeichnet. Die Choreographin Lucinda Childs hat sich zur Vertiefung des Eindrucks der Oper noch einer achtköpfigen Gruppe von Tänzern bedient, die ganz zu Anfang sowie im düsteren Schlussteil der Oper auftritt und dann den über die bisherige Dauer herrschenden Realismus der Inszenierung aufhebt.
Marlin Miller (Robert Wilson); Dietrich Henschel (Oppenheimer); Robert Bork (Teller)
J. Robert Oppenheimer (deutscher Abstammung, der im richtigen Leben in Göttingen promoviert hat) tritt im weißen Anzug und Hut wie im Urlaub auf, immer an einer Zigarette ziehend, um seine innere Unruhe zu dämpfen (am 18. Februar 1967 starb Oppenheimer an Kehlkopfkrebs!). Eine Atombombe auf japanische Zivilisten; das stört ihn nicht: es muss der größtmögliche psychologische Eindruck erzeugt werden. (Später hat Oppenheimer seine Meinung unter dem Eindruck des Geschehenen geändert und kam ins Visier der McCarthy-Ära.) Dietrich Henschel gab in dieser großen Rolle eine Glanzpartie mit überzeugender Bühnenpräsenz und seinem kräftigen dunkel grundierten und sehr kultivierten Bariton. Edward Teller ist der Zyniker, der sich nicht voll in den Dienst des Projekts stellt. Robert Bork mit mächtig und finster strömendem Bassbariton verlieh dieser schillernden Figur Glaubwürdigkeit und Profil. (Teller, der Vater der Wasserstoffbombe, kam aus Ungarn und hat sich später durch Quertreiberei und Denunziation unbeliebt gemacht.) Marlin Miller, klein erscheinend gegen die hochgewachsenen Vorgenannten, sang den von Gewissensbissen geplagten Robert Wilson mit hellem, klar konturiertem Charaktertenor. Mit Peter Sidhom als General Leslie Groves war ein stimmgewaltiger sonorer tiefer Bariton besetzt, der wie ein Popanz seine Schwäche hinter scharfem Befehlston versteckte und insgesamt recht einfältig wirkte. Brian Bannatyne-Scott spielte und sang den eingeschüchterten Fachidioten Jack Hubbard, der im Wesentlichen als Chefmeteorologe nur den Wetterbericht zu verlesen hatte und das mit verlässlichem, kernigem Bass tat. Mit klarem baritonalem Tenor gestaltete John Graham-Hall in einem einzigen Auftritt die kleine Rolle des Captain James Nolan.
John Graham-Hall (Capt. Nolan); Dietrich Henschel (Oppenheimer); Brian Bannatyne-Scott (Hubbard); Peter Sidhom (Gen. Leslie Groves)
Den beiden Frauenrollen in der Oper ist ein Kontrastprogramm außerhalb des militärisch-technischen Komplexes zugeordnet. Als Oppenheimers Frau Kitty sang Anna Grevelius aus einer warmen, profunden und ausdrucksstarken Mittellage und ließ ihren klaren Mezzosopran in den hoch gelegenen Lyrismen regelrecht leuchten. Musik und Text akzentuierten ihre Besorgnis und Ängste bezüglich der unheimlichen Lagen; sanft ihre Begleitmusik. Noch weitaus kantabler ist die Rolle der Indianerin Pasqualita angelegt, die ein traditionelles Lied der Tewa-Indianer singt, dessen letzte Strophen in die letzten Bilder eingestreut sind. Jovita Vaskeviciute trug das anrührend mit ihrem formschönen und kräftigen sowie sehr tiefen Mezzo vor, wofür sie zum Schluss Extrabeifall erhielt. Ihr Lied beschwor die Naturkräfte gegen den rücksichtslosen, alles überrollenden kalten Kriegswahn. Die solistische Besetzung des Abends stand insgesamt auf einem homogen hohen Niveau.
Dietrich henschel (Oppenheimer); Chor
Unter der Leitung von Patrick Davin musizierte das Orchestre symphonique de Mulhouse in großer symphonischer Besetzung und bot eine tadellose Leistung. Zu einem gut ausgewogenen Verhältnis zwischen einem fast 40-köpfigem Streicherapparat und 24 Bläsern, bei denen die ganz tiefen Holzbläser (Kontrabassklarinette und Kontrafagott) dunkle Klangpunkte markierten, kamen noch ein verstärktes Schlagwerk, Harfe und Celesta, so dass die sorgfältig und reich durchorchestrierte Partitur insgesamt sehr gut ausbalanciert wirkte. Adams‘ Klangbild fußt noch in spätromantischer Opulenz, steht aber auch deutlich hörbar in der Nachfolge der amerikanischen Symphonik der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts und verarbeitet diverse komplexe rhythmische Einflüsse. Zu den teilweise dramatischen Aufwallungen des Orchesters kamen noch Geräusch- und Elektronikeinspielungen aus dem Zuschauerraum, die den Eindruck des Kriegsgeschehens verstärkten. Sehr gut gelang es dem Orchester, immer wieder die unter den Beteiligten herrschende Unruhe darzustellen und zum Schluss mit einer Motivik, die der minimal music entlehnt ist, die enorme Anspannung vor dem großen Experiment zu verdeutlichen. Ostinatoartig kommen in leichten Abwandlungen kleine Schlagwerkmotive, die sich in einem langgezogenes Crescendo steigern. Auch die breit angelegten Chorsätze sind prägend für diese Oper, wobei sich erstaunlicherweise gleich zu Beginn nur der Frauenchor zu den neuen Erkenntnissen der Quantenphysik äußert. Den bestens einstudierten chœurs de l’opéra national du Rhin (Leitung: Sandrine Abello) gehört auch der beeindruckende und nachhaltige Schluss der Oper. Während die Zeit, der Count-down, in den genannten Schlagwerkostinati zu irrealer Dauer und Spannung gedehnt wird, möchte man sich in Erwartung des Atomblitzes des trinity test (16.07.1945) am liebsten in die Sessel drücken. Aber die Regie geht mit Hilfe einer Videoprojektion in eine Überleitung und vollführt einen Zeitsprung von einem Monat auf den 15.08.1945. Little boy (welch zynische Verniedlichung!) hat Hiroshima zerstört, der große Chor tritt mit verrußten Gesichtern und verbrannter Kleidung auf und ruft vor dem heute noch stehenden Ruine des Kuppelbaus nach Wasser. Eines der größten Verbrechen der Menschheit wurde auf der Bühne in Erinnerung gerufen.
Nach diesen letzten Eindrücken setzt der Beifall aus dem sehr gut besuchten Haus nur langsam ein, dauert dafür aber umso länger. Doctor Atomic kommt in Straßburg noch am 4., 6. und 9. Mai und nur einmal in der Filature in Mülhausen am 17. Mai 2014. Man sollte sich diese eindrückliche Produktion nicht entgehen lassen.
Manfred Langer, 03.05.2014
Fotos: Alain Kaiser
Auch im Badischen Staatstheater in Karlsruhe steht der Doctor Atomic noch auf dem Spielplan (noch vier Mal bis zum 25.05.2014. Unsere Besprechung dieser Produktion)