Lieber Opernfreund-Freund,
die Opéra Royal de Wallonie-Liège hat die neue Spielzeit am vergangenen Wochenende mit einer fulminanten Premiere von Gounods Faust eröffnet. Das Werk gerät in der opulenten Lesart von Thaddeus Strassberger und dem wunderbaren Dirigat von Giampaolo Bisanti zum optisch-klanglichen Gesamtkunstwerk.

Anfang September wurde bekannt, dass der Vertrag von Giampaolo Bisanti, der dem Orchester der ORWL seit 2022 vorsteht, vorzeitig verlängert wurde und er seine Arbeit als Generalmusikdirektor in Lüttich bis 2031 fortsetzen kann. Wie um dieses Ereignis zu feiern, präsentiert er am Abend der Saisoneröffnung zusammen mit den Musikerinnen und Musikern eine vollendete und ebenso schwung- wie klangvolle Interpretation der Gounod‘schen Faust-Adaption und badet das Publikum in wunderbaren Melodienbögen und eindrucksvollen Chorszenen, um im nächsten Augenblick eine unvergleichliche Intimität und höchstes Sentiment zu entfalten, etwa wenn Marguerite ihr Schicksal beklagt.

Das funktioniert auch deshalb so gut, weil der US-amerikanische Regisseur Thaddeus Strassberger auf der Bühne gleichermaßen auftrumpft und mit üppiger Ausstattung punktet. In seiner lebendigen Inszenierung, die sich durch gekonnte Personenführung auszeichnet, wird nicht nur gesungen, sondern auch getanzt (Choreografie: Antonio Barone) und mit sinnfälligen Videos von Greg Emetaz gearbeitet, die die Handlung in die Zeit des zweiten Weltkrieges verlegen. Die opulenten Kostüme von Giuseppe Palella sind so überbordend, dass man gar nicht weiß, wohin man zuerst schauen soll – und das nicht erst im letzten Akt, indem er die Walpurgisnacht zum mexikanischen Día de los Muertos umdeutet und der Opulenz der Kostüme im wahrsten Sinne des Wortes die Krone aufsetzt. Dabei gerät der optische Bombast nicht zum Selbstzweck, löst Strassberger doch am Ende auf, warum Mephisto mir den ganzen Abend wie eine Mischung aus Jesus und einem Engel, dem man die Flügel ausgerissen hat, erscheint: Die Rettungsszene der bedauernswerten Margarethe macht klar, dass Himmel und Hölle vielleicht das gleiche sind.

Auch gesanglich stimmt nahezu alles an diesem Freitag: in der Titelrolle besticht der US-amerikanische Sänger John Osborn mit einer Mischung aus Nonchalance, tenoralem Höhenglanz und einer gehörigen Portion Gefühl. Die Rolle des Méphistophélès scheint hingegen wie gemacht für den aus Uruguay stammenden Erwin Schrott, der seinem samtenen, ausdrucksstarken Bariton etwas Geheimnisvoll-Durchtriebenes beimischt und eine immense Bühnenpräsenz mitbringt, so dass man gar nicht wegschauen oder -hören mag. Der ausdrucksvolle Mezzo von Nino Machaidze ist mir zu Beginn eine Spur zu dunkel und kräftig für die unschuldige Marguerite – ihre Juwelenarie scheint fast, als würde sich Bizets Carmen über ein paar Klunker freuen – ab dem dritten Akt allerdings präsentiert sie zahlreiche Facetten und spielt anbetungswürdig die junge Frau zwischen Liebe, Enttäuschung und Verzweiflung. Ein Wermutstropfen ist dann aber ihre schlechte Diktion, die selbst für Muttersprachler die Übertitelung zwingend notwendig macht. Markus Werba ist ein glaubwürdiger Valentin mit seinem so kultivierten wie gehaltvollen Bariton, während Elmina Hasan in der Hosenrolle des Siebel ebenfalls auf ganzer Linie überzeugen kann.

Heimlicher Star am Premierenabend ist der von Denis Segond betreute Chor, der abliefert, egal, ob die Damen und Herren in kleinen Ensembles auftreten, in denen sie sich durch eine wunderbare Klarheit auszeichnen, oder ob sie dem Publikum im nie überbordenden Forte klangliche Wucht entgegenschleudern. Bravi!
Das Publikum im ausverkauften Haus ist ähnlich begeistert wie ich. So kann die neue Spielzeit gerne weitergehen!
Ihr
Jochen Rüth
18. September 2025
Faust
Oper von Charles Gounod
Opéra Royal de Wallonie-Liège
Premiere: 12. September 2025
Regie: Taddeus Strassberger
Musikalische Leitung: Giampaolo Bisanti
Orchestre de l’Opéra Royal de Wallonie-Liège
weitere Vorstellungen: 18. und 20. September 2025