Am Freitagabend, den 12. Dezember 2025, erlebte ich in der Berliner Philharmonie einen Konzertabend von großer klanglicher Spannbreite und dramaturgischer Präzision. Es war mein erster Besuch in diesem Haus, und besonders beeindruckten mich daran die kaum wahrnehmbaren Publikumsgeräusche sowie die außergewöhnlich transparente Akustik. Trotz ihrer Größe vermittelt die Philharmonie eine überraschende Nähe und Konzentration. Unter der Leitung von Andris Nelsons präsentierten die Berliner Philharmoniker ein Programm, das die Bandbreite ihres Orchesters eindrucksvoll offenbarte: Duprés festliche Cortège et Litanie, Dvořáks lyrisches Violinkonzert in a-Moll und Schostakowitschs monumentale Zehnte Symphonie.
Festlicher Auftakt mit Dupré
Das Konzert begann mit Marcel Duprés „Cortège et Litanie“, arrangiert für Orgel und Orchester, ein Werk, das seine Wirkung aus der Mischung von Feierlichkeit und kontemplativer Ruhe zieht. Die Orgel, gespielt von Jan Liebermann, ergänzte das Orchester zu einem Klangteppich, der die Zuhörer sofort in eine konzentrierte, fast sakrale Stimmung versetzte. Bereits hier zeigte sich die geschulte Sensibilität Nelsons, der jede dynamische Nuance sorgsam austariert.
Dvořák: Lyrik trifft Virtuosität
Im Anschluss trat Benjamin Beilman als Solist im Violinkonzert von Antonín Dvořák auf, eingesprungen für die ursprünglich angekündigte Hilary Hahn. Beilman verband technische Brillanz mit einer warmen, ausdrucksstarken Tongebung, die sowohl die intimen Momente des Konzerts als auch dessen äußerst lebhafte Böhmische Tänze plastisch erscheinen ließ. Das Orchester antwortete sensibel auf den Solisten, und Nelsons führte die Musiker durch ein feines Wechselspiel zwischen Dialog und orchestraler Fülle, das die romantische Tiefe des Werkes aufleuchten ließ.
Schostakowitsch: Dramatisches Panorama
Nach der Pause kippte der Abend in eine andere, ungleich düsterere Sphäre. Mit Dmitri Schostakowitschs Zehnter Symphonie entfaltete sich in der Berliner Philharmonie eine Klangwelt von bedrängender Intensität und existenzieller Schärfe. Dieses Werk, das wie kaum ein anderes für die innere Zerrissenheit seines Komponisten steht, wurde von den Berliner Philharmonikern nicht als historisches Monument behandelt, sondern als lebendiges, hochaktuelles musikalisches Bekenntnis.
Schon der lange, spannungsgeladene Beginn des ersten Satzes wirkte wie ein tastendes Suchen im Halbdunkel. Die Streicher spannten weite, nervös vibrierende Klangflächen auf, über denen die Holzbläser mit scharf konturierten Einwürfen fast wie kommentierend wirkten. Andris Nelsons ließ diese Musik atmen, ohne ihr den inneren Druck zu nehmen: Die Tempi blieben kontrolliert, aber niemals bequem, jede Steigerung schien unausweichlich vorbereitet. So entstand von Beginn an eine Atmosphäre latenter Bedrohung, in der sich die enorme Präzision des Orchesters mit einer spürbaren emotionalen Anspannung verband.
Im berüchtigten zweiten Satz, dem rasenden Scherzo, zeigte sich die kompromisslose Seite dieser Interpretation. Die martialischen Marschrhythmen wurden nicht ironisiert oder gebrochen, sondern mit brutaler Direktheit ausgespielt. Die Blechbläser fuhren schneidend in den Raum, die Schlagzeugakzente wirkten wie Peitschenhiebe. Nelsons dirigierte hier mit strenger, fast unerbittlicher Autorität und präsentierte eine Lesart, die weniger auf Karikatur als auf nackte Gewalt setzte und damit den historischen Abgrund dieses Satzes unüberhörbar machte.
Der langsame dritte Satz öffnete dann einen anderen Horizont. In den geheimnisvoll schwebenden Passagen, in denen Schostakowitsch sein persönliches musikalisches Monogramm versteckt, zeigte das Orchester eine beeindruckende Fähigkeit zur klanglichen Selbstzurücknahme. Die Soli der Holzbläser waren von beklemmender Klarheit, die Streicher zeichneten lange Bögen voller innerer Unruhe. Hier ging es nicht um Schönheit im klassischen Sinn, sondern um das Freilegen einer verletzlichen, fast privaten Klangsprache. Die stille Intensität erzeugte im großen Saal eine erstaunliche Konzentration.
Im Finalsatz schließlich bündelte sich all das zuvor Aufgebaute zu einer ambivalenten Mischung aus Befreiung und bitterem Triumph. Nelsons hielt die Zügel straff, ließ die Musik vorwärtsdrängen, ohne ihre Abgründe zu glätten. Die scheinbar ausgelasseneren Passagen wirkten nie unbeschwert, sondern stets von Ironie und Widerstand unterfüttert. Wenn sich das Werk am Ende mit greller Energie entlädt, war das hier weniger Jubel als ein trotziges Beharren.
Diese Aufführung lebte von der Spannung zwischen höchster technischer Kontrolle und emotionaler Radikalität. Die Berliner Philharmoniker demonstrierten ihre außergewöhnliche Klangkultur ebenso wie ihre Bereitschaft, an Grenzen zu gehen: brachiale Ausbrüche, schneidende Schärfen, extreme Dynamik, aber auch ganz zarte, sanfte Passagen. Andris Nelsons führte das Orchester mit klarer Handschrift, durch diese vielschichtige Partitur und machte Schostakowitschs Zehnte zu dem, was sie sein kann: kein gefälliges Repertoirestück, sondern ein musikalisches Zeugnis von Macht, Angst, Widerstand und innerer Selbstbehauptung.
Dieses Konzerterlebnis wird mir noch lange in begeisternder Erinnerung bleiben.
Marc Rohde, 15. Dezember 2025
Marcel Dupré: Cortège et Litanie op. 19 Nr. 2 (Fassung für Orgel und Orchester)
Antonín Dvořák: Konzert für Violine und Orchester a-Moll op. 53
Dmitri Schostakowitsch: Symphonie Nr. 10 e-Moll op. 93
Philharmonie Berlin
Konzert am 13. Dezember 2025
Benjamin Beilman, Violine
Jan Liebermann, Orgel
Andris Nelsons, Dirigent
Berliner Philharmoniker