Was die drei sehr unterschiedlichen Stücke, die das Bayerische Staatsorchester anläßlich seines 500-jährigen Bestehens am 11. September 2023 im Rahmen des Musikfests Berlin im Großen Saal der Berliner Philharmonie aufführte, verbindet, erschloß sich tatsächlich beim Hören. Zwar hatten die Macher des Programmheftes den erläuternden Texten das durchaus passende Motto „Lebenspfade“ vorangestellt, aber es hätte aufgrund der plastischen Klanggemälde auch „Lebensbilder“ oder „Tongemalte Empfindungen“ heißen können.
Einen „großartigen Klangmaler“ nannte im Pausengespräch der verehrte Kollege Michael Demel den Dirigenten Vladimir Jurowski und in der Tat entrollten sich vor dem inneren Auge großartige, ja dramatische Landschaften und eindringliche Seelenbilder bei der Wahrnehmung aller drei Kompositionen.
Victoria Vita Polevá ist eine zeitgenössische ukrainische Komponistin und niemand, der aus diesem kriegserschütterten Land kommt, kann – und will – derzeit unbeschwert künstlerisch schaffen. So ist ihre einsätzige 3. Symphonie, die aber dennoch vier unterschiedliche Tempobezeichnungen hat, „Weißes Begräbnis“ überschrieben. Die Farbe Weiß steht hier für das Lichtvolle der Auferstehungshoffnung, möglicherweise, so Martin Wilkening, deutet sie auch auf den Schnee während eines Begräbnisses im Frühjahr hin, unter dem sich bereits die Natur auf den Frühling vorbereitet.
Von der Klangsprache her ist das d-Moll-dominierte Werk schwermütig, ja spielt mit Abgründen. Es mag dahingestellt sein, ob man der im Vorfeld erfolgten Zuschreibung zur „Minimal Music“ zustimmen möchte; vielleicht sind solche Genrezuweisungen auch gar nicht mehr notwendig. Es gibt in der Tat viele retardierende Motive, die dann variiert werden, was etwas an die Symphonien von Allan Pettersson erinnert. Aber auch die gerade dessen späten Symphonien innewohnende Düsternis ist im Grunde neo-spätromantischer Natur und das kann man ebensogut Polevás „Weißem Begräbnis“ attestieren, ohne ihr Rückwärtsgewandtheit zu unterstellen. Sie errichtet wuchtige Klangmassive und in den dramatisch aufstrebenden Crescendo-Linien fühlt sich mancher aus dem Publikum in die Stimmung versetzt, die Strauss spannungsreich aufbaut, bevor er in seiner „Alpensymphonie“ die Sonne erstrahlen läßt.
Dies wärmende Gestirn ist in dieser Komposition allerdings durch grauen Dunst eher ahnbar als zu fühlen; das Finale zumindest entwirft einen Hoffnungsschimmer in aller Trauer.
Die ist auch zentrales Thema in Alban Bergs Violinkonzert, „Dem Andenken eines Engels“. Dieser Engel war Manon Gropius, die Tochter von Alma Mahler-Werfel und Walter Gropius, die mit 18 Jahren an Kinderlähmung starb.
Die Erschütterung über diesen Tod eines Mädchens in seiner blühenden Jugend schlägt sich in Bergs Violinkonzert greifbar, manchmal grausam nieder. Obwohl das Werk der Zwölftonmusik zuzuordnen ist, bleibt es doch in der plastischen Beschreibung des tiefen Schmerzes durchweg eingängig, wenngleich unbestritten unbarmherzig.
Ländler-Anklänge und Walzer-Zitate im ersten Satz wirken wie eine Farce alpenländischer Ausgelassenheit, denn dies Mädchen würde nie wieder fröhlich tanzen. Die durchklingende Sanftheit der Musik, die das Wesen Manons einfangen soll, wird immer wieder harsch gebrochen – das ist tatsächlich eine Fortsetzung Mahlers mit moderneren Mitteln.
Vilde Frang gelingt es in bewundernswürdiger Weise, dem sanften, zarten Charakter der Verstorbenen Ausdruck zu geben. Sie tritt trotz der exponierten Stellung des Solo-Instruments niemals vor das Werk und das gemeinsame Spiel mit dem brillanten Orchester, mit dem sie beständig Kontakt hält. Oft dreht sie sich um, blickt in den Klangkörper und vor allem zur ersten und zweiten Geige. Mit Konzertmeister Martin Schultheiß tritt sie immer wieder in einen innigen Dialog und bildet so eine harmonische Einheit aller Mitwirkenden.
Vladimir Jurowski mit seinem eleganten und sensiblen Dirigat entspricht dieser Harmonie; seine Anweisungen sind klar und gemessen. Es gelingt ihm mühelos, das große Orchester in diesem in mehrfacher Hinsicht nicht einfachen Werk gleichzeitig zu Transparenz und Fülle zu führen.
Diejenigen, die sich mit Sterbe- und Trauerphasen befassen, werden gerade bei diesem Konzert daran denken, wie sich der eigene Abschied und der von geliebten Menschen in Strukturen gestaltet, die zwar individuell voneinander in Intensität und Dauer variieren, aber dennoch immer wieder Grundmustern entsprechen. So ist der erste Satz durch das Nicht-Wahrhaben-Wollen und die blanke Bitternis mit schmerzvollen Erinnerungen an frohe Zeiten geprägt, während der zweite tatsächlich versucht, Trost zumindest möglich zu machen.
Das Zitat aus Bachs Choral „Es ist genug“ deutet eine Ergebenheit in das unabwendbare Schicksal an, wenngleich die Verletzung der Seele durch den grausamen Verlust stets durchklingt. Aber so hart Vilde Frang zuvor die Saiten streicht und ihre Violine schluchzen und klagen läßt, so schmiegsam gibt sie nun einer verbindenden Umarmung der Trauernden tröstenden Raum.
Begeisterter Beifall würdigt diese besondere Leistung; Vilde Frang hätte problemlos eine Zugabe geben können, aber was will man nach solch einem Stück spielen?
Das Publikum – unverständlicherweise ist der Große Saal schlecht besucht – verhält sich fast durchweg dem Ernst des Werks angemessen, aber es laufen immer wieder Leute herum, die sich kurzfristig noch zu einem Platzwechsel entschlossen haben. Weshalb eine Familie, bei der die Damen ständig Photos machen oder filmen und der etwa 8-jährige Knirps dauernd Faxen macht, sich hierher verirrt hat, bleibt fraglich. Mit solch schwerer Kost ist ein junger Mensch aber auch kaum für die Klassik zu begeistern und folgerichtig hat die Schar den Saal verlassen, als es an Strauss´ „Alpensymphonie“ kommt, die in jedem Falle zugänglicher gewesen wäre.
Dieses Tongemälde einer Bergwanderung läßt durch ein riesiges Orchester mit ungewöhnlichen Klangmitteln wie Herdenglocken, Windmaschine und Donnerblech die Alpen vor dem inneren Auge des Publikums majestätisch aufragen. Als wollten die Münchner den Berlinern mal zeigen, daß es sich bei solchen Flurbezeichnungen wie „Prenzlauer Berg“ lediglich um eine sanfte Geländeerhöhung handelt, malen sie ein großes Alpenpanorama – etwas mehr Differenzierung in der Dynamik hätte hier jedoch durchaus sein dürfen.
Gerade das Blech aber ist phantastisch und der Sonnenaufgang gerät zu einem goldenen Glühen, vor dessen Erhabenheit man nur niederknien möchte. Die Süddeutschen im Publikum dürfen sich der Bergwanderungen erinnern, bei denen der Blick vom Gipfel das Tiefste der staunenden Seele berührt, während die Norddeutschen eine Ahnung davon bekommen, was solche Naturerlebnisse an Glücksempfindungen auslösen können.
Das schafft außer Mahler eben nur Strauss und er tut das mit heimischen Klängen. In ihrem Grußwort hat die Staatsministerin für Kultur und Medien Claudia Roth begeistert von ihrer Vorfreude auf die Kuhglocken geschwärmt, die sie aus ihrer Allgäuer Heimat kennt und liebt. Jurowski und die Münchner haben das ernstgenommen und lassen besonders üppig die Schellen läuten.
Das Tempo ist durchweg dem forschen Schritt des Wanderers angemessen und auch auf „Auf blumigen Wiesen“ ist geraten, qualitätvolle Wanderstiefel zu tragen, um zielgerichtet über die grünen Matten zu stapfen. Dies Schuhwerk braucht man besonders bei aufkommendem Gewitter, das das Orchester durch Paukengrollen, doppelte Windmaschine und Donnerblech bedrohlich aufbrausen läßt. Das große Blech hätte gerne heftiger dräuen dürfen.
Beim Zitat des Erlösungsmotivs aus Wagners „Fliegendem Holländer“ im Ausklang mag man an die Erleichterung über die geglückte Unternehmung denken, die genau wie der Aufstieg in der dunkelgrünen Senke des Tals endet, mit den uralten Bäumen und den murmelnden Bächen. Wer genau hinhört, kann darin die Forellen flitzen sehen.
Strauss tat gut daran, diese Liebeserklärung an die Alpen nicht mit einem effekthaschenden Fortissimo-Knall enden zu lassen und so verklingt das große Werk in heimeliger Tiefe.
Nach respektvollem Abwarten, bis sich der Stab Jurowskis gesenkt hat, erhebt sich tosender Jubel mit vielen Bravo-Rufen. Dirigent und Orchester schenken den Berlinern als Zugabe einen Ausflug nach Nürnberg mit dem Vorspiel zum 3. Aufzug aus Wagners „Meistersingern“. Das hat man selten erlebt, aber in seiner vom Orchester wundervoll wiedergegebenen Seelenhaftigkeit des Stücks ohne jegliche Tümelei gerät diese Zugabe zu einem feierlichen Schluß dieses an Facetten reichen, aber in sich geschlossenen Konzertabends.
Andreas Ströbl, 12. September 2023
Victoria Vita Polevá, Symphonie Nr. 3 “White Interment”
Alban Berg, Konzert für Violine und Orchester „Dem Andenken eines Engels“
Richard Strauss, Eine Alpensymphonie op. 64
11. September 2023
Berlin, Philharmonie, Großer Saal
Musikalische Leitung: Vladimir Jurowski
Violine: Vilde Frang
Bayerisches Staatsorchester