Sie hat eine Stimme zum Verlieben. Sie beginnt mit Meine Rose. Einst war sie, das ist über 30 Jahre her, eine Blume in Bernhard Sinkels unvergesslicher Nürnberger Parsifal-Inszenierung. Dann war sie die Berg’sche Höllenrose, also die Lulu, mit der sie jahrelang internationale Erfolge feierte. Am Ende des Abends wird sie eine Rote Rose singen, später auch eine Georgine und endlich einen Epheu [Schreibung im Original].
Sie hat uns schon mit der ersten Silbe. Sie packt uns mit der jung gebliebenen und erfahren gewordenen Stimme und einer Klarheit, die im Liedgewerbe – ja, doch – selten ist. Sie: das ist Marlis Petersen, die mit ihrem Liedpianisten Matthias Lademann einen Abend gibt, der das Publikum so hinreißt, dass immerhin zwei Zugaben drin sind – Zugaben, die noch mit der selben Frische und Unmittelbarkeit in den Raum des Markgräflichen Opernhauses tönen. Er ist an diesem Vorabend der Bayreuther Festspiele (Wagner darf nicht fehlen) relativ schütter gefüllt; es liegt nicht an der Sängerin und ihrem Kompagnon, denn Liederabende an sich sind inzwischen nur noch schwer zu verkaufen. Vermutlich würde selbst ein wiedererstandener Fischer-Dieskau den Saal nicht mehr bis zum letzten Platz füllen. Egal – denn Marlis Petersen bringt einen Zauber in die Runde, der in seiner Mischung aus Genauigkeit und seelischer Emphase doch auf alle Manierismen verzichtet, die man dem großen „Fidi“, nicht ganz zu Unrecht, attestiert hat. „Diese sanfte wie eindringliche Stimme mit der Vorliebe für das Stille, mit der die Schönheit der Gattung Romantischer / Spätromantischer Liedgesang, die in letzter Zeit nicht gerade die populärste war, eine weniger irdische als himmlische Wiederauferstehung erlebt“, wie ein Bayreuther Rezensent anlässlich ihres spektakulären Viereralbums Dimensionen – Mensch und Lied einmal schrieb. Schon damals saß Lademann an einem Steingraeber, nun klingt der hervorragend eingestellte Konzertflügel sanft harmonisch zu den vokalen Schönheiten, die die Sängerin uns schenkt.

Blüten der Liebe heißt das Programm, es führt von Schumann über Zemlinsky und Wagner zu Strauss und endlich wieder zu Zemlinsky. Zwei bedeutende Zyklen werden von einigen Einzelzyklen – nein, nicht unterbrochen, sondern ergänzt, auf dass sich ein dramaturgisches Ganzes ergebe. Schumanns Meine Rose geht übergangslos in Frauenliebe und Leben über, einer Kette von acht Liedern, die bisweilen und immer noch als „problematisch“ abgetan werden. Gewiss, das Frauenbild… Doch aus Adelbert von Chamissos Zeilen zu schließen, dass sein Weltbild, im Stil des aus unserer Sicht moralisch eher beschränkten 19. Jahrhunderts, reaktionär war, weil er „die Frau“ als demütig Wartende, Empfangende und Geliebte, dann als Mutter zeichnet, die mit dem Tod ihres Mannes ihren Lebenswillen verliert, ist kurzschlüssig. Tatsächlich hat Chamisso die Rolle der Frau im Medium der Lyrik bestärkt, indem er ihr eine Autonomie der Gefühle zustand, die sich gegenüber den männlichen Interessen als durchaus eigensinnig erweist. Im Beharren auf den Stolz der Mutterschaft – ein Gefühl, das, so das lyrische Ich, kein Mann nachvollziehen könne, womit er gegenüber ihr, der Gebärenden, defizitär bleibe –, auch im durchaus sinnlichen Liebesleben und in der Sehnsucht wird das Bild einer Frau gezeichnet, das weniger von den Interessen des Mannes als vom Stolz darauf beseelt ist, Frau zu sein: freilich im Blick auf den Mann. Der aber erhält bei Chamisso bewusst keine Stimme; der Blickwinkel ist, es ist bemerkenswert, allein der der Frau. Statt eine bloße Projektion zu bieten (gewiss: die Gedichte wurden von einem Mann verfasst und komponiert), porträtiert der Dichter ein Individuum, das sich zwar zum Mann hin definiert, doch nicht als Hausmütterchen auf die Szene tritt. Es muss nicht verwundern, dass zu den Komponisten dieser Gedichte auch ungewöhnlich viele Frauen gehörten, die das Potential dieses Frauenbildes vielleicht besser herauslasen als die Kritiker. Im Übrigen macht bekanntlich immer der Ton die Musik, auch den Sinn – Marlis Petersen verkörpert Chamissos und Schumanns liebende Frau derart selbstbewusst, dass vom ersten Takt an klar ist, wer hier die Hosen an hat. Sie verkörpert sie, im wahrsten Sinn des Worts, auf ihre Weise emanzipatorisch – bis hin zu den letzten gesprochenen, nicht gesungenen Zeilen; der tödliche Verlustschmerz kennt am Ende keinen Gesang mehr.
Dagegen helfen die Walzer-Gesänge op. 6 des Alexander von Zemlinsky von 1898. Mit ihrer Wiener Jugendstilhaftigkeit brechen sie das Pathos der Schumann‘schen Liebeslieder. Auch für diesen Ton findet Marlis Petersen den rechten Ausdruck. Gleichermaßen stark, weil unverbraucht, kommen Wagners Wesendonck-Lieder. Schon vor ein paar Jahren sagte mir eine Bayreuther Bekannte, dass sie „diese Lieder nicht mehr hören“ könne. Leider war sie gestern abend nicht im Haus. Sie hätte sie vielleicht zum ersten Mal so hören können, dass der Gedanke an eine 1000ste Wiederholung der weltbekannten Lieder erst gar nicht aufgekommen wäre. Ohne Übertreibung: Hat man den Engel, das Treibhaus und Träume in Bayreuth schon einmal so deutlich, in einem genau ausgezirkelten Verhältnis von Dramatik und Poesie, gehört? Stehe still wird im Opernhaus von einer erregten Norn gesungen – und bleibt doch bei der Opernsängerin immer noch Lied. Chapeau!
Wenn nach den neuentdeckten Wagner-Liedern ein Strauss (pardon für den naheliegenden Wortwitz) Strauss-Lieder ins Haus geschickt wird, bringt man weniger die bekannten als einige unbekanntere Perlen (Die erwachte Rose, Begegnung und andere deliziöse Schönheiten) zum Vorschein. Das berühmte Allerseelen ist die erste Zugabe – Schumanns Sehnsucht op. 51/1 die zweite –, nachdem mit dem Epheu op. 22/3 und Zemlinsky beide Geschlechter adressierende Selige Stunde op. 10/2 das offizielle Programm abgeschlossen wurde: als direkte Anbindung an den Beginn des Abends, der Liebeserklärung des Mannes an die Frau und dem Zyklus, in dem die Frau dem Mann ihre Liebe ihre Liebe singt. Wie nennt man so etwas? Eine dramaturgische Laubsägearbeit.
Sie wäre akademisch, würden nicht Marlis Petersen und ihr Pianist derart charmant und sinn- und dichtkunstvermittelnd auftreten. Manchmal lächelt sie, als wüsste sie, wie sie ihr Publikum verzaubert – was sie ja gerade tut…
Frank Piontek, 27. Juli 2025
Blüten der Liebe
Marlis Petersen und Matthias Lademann
Markgräfliches Opernhaus
25. Juli 2025