Nach seiner etwas ungeordnet entstandenen Auferstehungs-Symphonie wollte Gustav Mahler (1860-1911) mit einer dritten Symphonie etwas Höheres, Programmatisches schaffen. Der inzwischen als Dirigent ordentlich etablierte Mahler war inzwischen 1891 von Bernhard Pollini (1838-1897) dank eines hohen Honorars aus Budapest in das aufstrebende Hamburg als Chefdirigent des Stadttheaters geholt worden. Der Kulturhunger des Hamburger Bürgertums und der Ausfall Hans von Bülows (1830-1894) als Dirigent der „Neuen Abonnementskonzerte“ zwang Mahler regelrecht zu Auftritten in Konzerträumen und weiteren Opernhäusern. So gab es Jahre, in denen Mahler an jedem zweiten Tag dirigierte und für seine Komponisten-Ambition kaum Zeit blieb.

Zu Mahlers Glück waren die Hamburger Theaterferien vom Beginn des Monats Juni bis zum Ende des Augusts so großzügig ausgedehnt, dass dem „Ferienkomponisten“ vergleichsweise reichlich Zeit für die Realisierung seiner Ideen blieb. Für Gustav Mahler und seine Entourage war für die Sommermonate im Gasthof „Zum Höllengebirge“ in Seefeld bei Steinbach am Attersee eine Zimmerflucht mit fünf Räumen angemietet worden. Außerdem stand Mahler ab 1894 ein zwischen Gasthof und See errichteter einfacher Ziegelbau zur Verfügung, der mit einem Stutzflügel, einem Tisch und einigen Stühlen ausgerüstet war, dem ersten der berühmten „Komponierhäusel“ des Meisters. Einem Freund hatte Mahler geschrieben, dass er 1895 mit einem aus sechs Segmenten bestehendem „Sommermittagstraum-Konzept“ für eine d-Moll-Symphonie an den Attersee reise: Pan erwacht und der Sommer marschiert ein. Dann in der Folge: was mir die Blumen auf der Wiese erzählen, was mir die Tiere im Walde erzählen, was mir der Mensch erzählt, was mir die Engel erzählen sowie was mir die Liebe erzählt. Im Sommer 1895 entwarf Mahler vermutlich die Segmente mit den Erzählungen, die späteren Sätze zwei bis fünf. Zur Arbeit im „Pavillon“ habe ich nur sekundäre Informationen gefunden: Mahler sei früh aufgestanden, habe im See gebadet und sich im Häusel ein Frühstück servieren lassen. Bis zum Mittagstisch habe er intensiv an den späteren Sätzen zwei bis sechs gearbeitet. Fortwährend habe er Reihenfolgen und Artikulationen geändert. Die Nachmittage gehörten dann der Gesellschaft, dem geliebten Veloziped-fahren und der Beziehung zur Anna von Mildenburg (1872-1947), soweit diese anwesend. Natürlich wurde auch ausgiebig musiziert. Gegen Ende des Urlaubes war er mit den Arbeitsergebnissen der späteren Abteilung II soweit zufrieden. Aus den ursprünglichen Planungen waren ein „Tempo di Menuetto“, das „Scherzando“, das „Misterioso“ nach Nietzsches Nachtwandler Lied und das Wunderhornlied „Es sungen drei Engel“ geworden. Das noch in Erwägung gezogene, bereits 1892 vertonte Wunderhorn-Lied „Das himmlische Leben“, hat Mahler aus der Reihung entnommen und später in seiner vierten Symphonie verwendet. Stattdessen komplettierte er die Abteilung II mit einem machtvollen Finalsatz. Am Ende des Urlaubs blieb noch etwas Zeit, dass Mahler den monströsen Kopfsatz in Angriff nehmen konnte. Der Aufenthalt im Folgejahr begann mit einer Panne, denn Mahler hatte die Skizzen der Arbeiten des Vorjahres mit den Sätzen zwei bis sechs in Hamburg zurück gelassen. Ein flehentlicher Brief an den Freund Hermann Behn (1857-1927), ihm das Material irgendwie zukommen zulassen, ließen den Pianisten und Kapellmeister seinen Ostseeurlaub umgehend unterbrechen. Vermutlich hatte Behn die Manuskripte selbst nach dem Attersee gebracht. Denn, gemäß einer anderen Quelle, hätten Mahler und Behn im Sommer 1896 eine „Behn-Bearbeitung der Auferstehungs-Symphonie für Klavier mit vier Händen“ in Seefeld gemeinsam mit großem Vergnügen gespielt. Möglicherweise verdanken wir sogar den gewaltigen halbstündigen Eingangssatz der dritten Symphonie der Schußlichkeit Mahlers. Während er auf die vergessenen Entwürfe aus Hamburg wartete, arbeitete er am noch Fehlenden, dem Auftakt der Symphonie. Aber statt des „Einmarschs des Sommers nach Pans Erwachen“ war eine exorbitante Komposition entstanden. Ein prächtiges, musikalisches Bild, voller Kraft und Elan, ein Satz, der in sich selbst bereits eine eigene Welt mit mal bunten, mal heroischen, mal ungestümen Passagen darstellte, hatte sich entwickelt. Mahler packte sämtliche musikalischen Einfälle in den Eröffnungssatz, wo immer sie auch hinpassen mögen. Immer neue melodische Intuitionen klangen auf, entfalten sich mit einer selbst für ihn unbekannten Polyphonie in die Breite. Gustav Mahlers Gefühl für die Fragilität der gesellschaftlichen Verhältnisse in der Zeit um die Jahrhundertwende führten ihn zu gewagten Rhythmen, sowie zu brüchiger Melodik und Harmonik. Ein zweifelnder zugleich belastender Gedanke trat hervor: dass hinter der Musik mehr stecke, als Mahlers Wortdeutungen für die Sätze merken lassen wollten. Der Sieg des Sommers, wie er am Satzende in einem grandiosen Marsch gestaltet war, wandelte sich so immer wieder ins Chaotische.
Daniele Gattis Tempo- und Stimmungswechsel vom Beginn an waren wichtig, damit die Zuhörerschaft nicht von einem derartigen Mammutsatz erschlagen wird. So gestaltete er die Klangwirkung der Sächsischen Staatskapelle distanziert und begrenzten instrumentalen Schärfungen hervortreten. Indem Gatti das Auskosten der melodischen Bewegungen in den Vordergrund rückte, erreichte er einen harmonischen und rhythmischen Fluss des etwas ungestümen Satzes mit seiner Länge einer selbstständigen Symphonie.
In der Pause zwischen den beiden Abteilungen nahmen die Damen des Sächsischen Staatsopernchores ihre Plätze hinter dem Orchester ein und verschafften dem Publikum eine Ruhepause.
Nur so konnte der Übergang zur zweiten Abteilung mit den für Mahler charakteristischen Naturbildern, den Bildern einer menschenbeglückenden Idylle, gelingen. Der Kopfsatz wurde von einer Blumenerzählung mit neun Minuten Dauer abgelöst. Das aber konnte Gatti nur gelingen, indem er sich einer Anleihe der Klangsprache des Rokoko bediente und den Satz mit beinah kammermusikalischer Feinheit und viel duftigen Klangfarben der Holzbläser interpretierte. Genüsslich folgten die Musiker dieser elegischen Auffassung und legten mit choralartigen Klängen einen tanzfremden Abschluss über den Übergang zum Folgesatz.
Dem „Tempo di Menuetto“ folgte das präzise gestaltete, unruhig-bewegte und spannende Scherzo. Mit dem von Helmut Fuchs in der Ferne mit fantastischer Reinheit gespieltem Posthornsolo erhielt es seinen Ruhepunkt.

Der vierte Satz stand dazu in krassem Gegensatz, als die kanadische Sängerin Michèle Losier düster und geheimnisvoll mit ihrem dunkel, warmen Timbre das „Nachtwandler-Lied“ Friedrich Nietzsches zu einem eindringlichen Hörerlebnis gestaltete. Ihr beeindruckender Stimmenumfang und ihr unaufdringliches Vibrato passten hervorragend zur Orchesterbegleitung der Staatskapelle. Dann traten die beiden Chöre hinzu und gestalteten den von Mahler bewusst naiv gestalteten idyllischen fünften Satz mit dem „Es sungen drei Engel“. Das bereits 1892 von Mahler der Sammlung „Des Knaben Wunderhorn“ entnommene Lied war dem Kinderchor der Semperoper von Claudia Sebastian-Bertsch und den Damen des Staatsopernchors von Jan Hoffmann einstudiert worden. Das direkte Nebeneinanderstellen der ernsten und heiteren Charaktere der beiden Sätze, aber auch die Mehrdeutigkeit der Motive und Themen ließen doch beim Hörer offen, ob sie ernst gemeint waren oder doch nur ironische Distanz verraten.
Die magischsten Momente bescherte uns Gatti mit seiner Interpretation des letzten Satzes, dem Adagio. Die Streicher spielten ihre schwebenden Klänge am Satzbeginn scheinbar aus dem Nichts. Die minimalistischen Zeichengebungen Gattis öffnete regelrecht ätherische Sphären und schien die Zeit anzuhalten. Der größtenteils von den strahlenden Streichern getragene Satz wurde von zurückhaltenden Bläser-Beiträgen ergänzt. Am Ende gelang es damit, eine Tragik des musikalischen Geschehens abzuwenden und das Konzert mit einem versöhnenden Finale abzuschließen.
Aber irgendwie blieb für den aufmerksamen Hörer das Gefühl, dass er an diesem Vormittag ein umgekehrtes Reihenfolgeproblem zu bewältigen hatte. Das eine Jahr zwischen der Entstehung von Abteilung II und I hatten die Spannungen zwischen den europäischen Ländern weiter verschärft, so dass die Komposition des Kopfsatzes der Symphonie merkbar ein Jahr näher an den ersten Weltkrieg herangerückt war, als die lockere Abteilung II erwarten ließ.
Thomas Thielemann, 9. Juni 2025
Gustav Mahler: Symphonie Nr. 3 d-Moll
Matinee des 11. Symphoniekonzertes
der Sächsischen Staatskapelle Dresden
Semperoper
8. Juni 2025
Michèle Losier Alt
Daniele Gatti Dirigent
Sächsische Staatskapelle Dresden