
Märchen sind nicht einfach bloße Unterhaltung für kindliche Gemüter. Spätestens seit Freud und C.G. Jung, Bruno Bettelheim und anderen Psychoanalytikern wissen wir, dass Märchen tief im Unterbewusstsein wühlen können, versteckte innere Ängste und Bedürfnisse auf symbolhafte Weise ansprechen und (nicht nur, aber auch) moralinsaure Wertevorstellungen der jeweiligen Kulturen, aus denen sie entspringen, vermitteln.
So ist es denn naheliegend und durchaus angebracht, dass, wenn man ein Märchen wie Puschkins Rusaln und Ljudmila in der Vertonung von auf die Bühne bringt, dieses auch nach ebensolchen Tiefen und Symbolen befragt. In der Doppelregie zwei Frauen: Alexandra Szemerédy und Magdolna Parditka (sie zeichnen auch verantwortlich für Bühne und Kostüme) haben auf überzeugende Art an der Oberfläche dieses Märchens um gute und böse Zauberer gekratzt und Schichten freigelegt, auf die man auf Anhieb kaum gekommen wäre. Für die beiden Regisseurinnen ist die abenteuerliche Reise, auf die sich Ruslan begibt, um seine entführte Braut Ljudmila zu finden, eine Reise ins Innere seines wahren Ichs, ein Albtraum, dessen kathartische Wirkung in seinem Coming Out als gleichgeschlechtlich fühlender Mann kulminiert. Die Katharsis findet passenderweise auch tief im Untergrund statt, nämlich in U-Bahn-Stationen und Bahnwagons. Zeitlich ist die Geschichte, die nun erzählt wird, in der Endzeit der kommunistischen Diktatur in der Sowjetunion angesiedelt. Bühnenbildtechnisch ist diese Inszenierung ausgesprochen gut gelungen. Für den ersten Akt, einem Festsaal, in dem die Hochzeit zwischen Ruslan und Ljudmila stattfinden soll, sehen wir auf der Drehbühne eine nüchterne Betonarchitektur, eine Art großes Tor, dessen schließbare Öffnung effektvolle Auftritte ermöglicht. Die Festgesellschaft besteht aus Pelz behangenen Damen und Männern in Uniform.
Für die drei Mittelakte dreht sich dieses Tor. Nun ist es mit Graffiti besprayt, u.a. mit dem bekanntesten Werk des Streetart Künstlers Banskys. Auf dem Weg Ruslans in die Tiefe seiner eigentlichen Gefühlswelt begleiten ihn geschmacklos-billig gekleidete Prostituierte, die einflussreiche „schwarze“ Braut Naina, sein Gefährte seit Kindheitstagen, Ratmir, und immer wieder hat der gute Zauberer Finn seine Finger im Spiel. Der U-Bahnzug wird dann auch angekündigt mit „Next station FINN’S CAVE“. Zuerst werden Ruslans über die normalen Gesten einer Männerfreundschaft hinausgehenden Gefühle bloß dezent angedeutet, doch ab dem dritten Akt, einer ausschweifenden Crossdresser-Ledermänner-Party im U-Bahn Wagon (so quasi Subkultur in der Subway) wo sich Ratmir in Strapsen zeigt, wird klar, dass Rusaln in Ratmir verknallt ist. Die Party wird dann aber von uniformierten Polizisten und Zivilfahndern brutal beendigt, die Partygäste mit Schlagstöcken (in Zeitlupe) malträtiert, ähnlich wie 1969 im New Yorker Club Stonewall in der Christopher Street.

In der Pause hatte man sich noch gefragt, ob die beiden Regie-Damen noch die Kurve kriegen würden, um die Reise in die Abgründe der Seelen der Protagonisten und die Handlung der Märchen-Oper einigermaßen auf Linie zu bringen. Sie schafften es. Mochten in den ersten beiden Akten noch einige dramaturgische Unschärfen vorhanden gewesen sein, so verlief ab dem dritten Akt alles mit viel klarerer Stringenz. Aber bereits im ersten Akt war ja deutlich geworden, dass Ruslan und Ljudmila ein erfolgreiches Eistanzpaar waren, das nun heiraten sollte, weil sich das für die Boulevardmedien wohl besser macht. Vor der geplanten Hochzeit sitzt Ruslan mit Wodkaflasche am langen Tisch und besäuft sich. Ljudmila schluckt Tabletten, da spürt man, dass etwas nicht stimmt. Auf Leinwand und real auf der Bühne mit Body Doubles (Katharina Franz und Karsten Linnich, sowie Anastasia Monastyrski) wird Eistanz gezeigt. Im vierten Akt dann, bei Ljudmilas großer Arie, sieht man Bilder der kleinen Eisprinzessin, die dem Druck des Vaters wohl nicht mehr gewachsen ist. Sie fällt dann nicht mehr nur in Schlaf, sondern versucht, sich umzubringen (Schlafmohnfeld) auf dem Bahnsteig der U-Bahn. Nach vielen Qualen und Pein finden die jungen Leute einen aktuell sehr beliebten Ausweg in die persönliche Freiheit: Polyamorie! Ruslan bildet mit Ratmir und dessen on/off Liebe Gorislawa eine Ménage à trois, Ljudmila wirft sich Farlaf um den Hals und verhehlt dabei aber nie ihre zärtlichen Gefühle für Naina. Damit können alle gut leben, die Gesellschaft feiert sogar mit Regenbogen-Einhörnern und LGBTQ+ – Flaggen mit. Märchen dürfen also doch utopisch positiv enden.
Musikalisch konnte man mit dieser zu Unrecht in Westeuropa viel zu selten gespielten, so wunderbar melodienreichen und mit intensiven orchestralen Farben aufwartenden Oper glücklich werden. Der Bass Illia Kazakov sang einen exzellent phrasierenden und intonierenden Ruslan, verlieh seiner Riesenrolle eine wunderbare stimmliche Wärme und berührende Eindringlichkeit. Man hörte ihm richtig gerne zu. Barno Ismatullaeva gestaltete ein differenziert gezeichnetes Charakterbild der Ljudmila. Sie war nicht einfach die unter der patriarchalen Herrschaft geduldig leidende Frau, sondern verlieh ihren eigenen Wünschen und Bedürfnissen verzweifelten Ausdruck. Die Auftrittsarie war schon fulminant, durchaus auch mit gewissen selbstbewussten Schärfen in den höheren Lagen gespickt, doch die große Arie im vierten Akt war ein regelrechter Showstopper, diese zart intonierten, trauerumflorten Melismen gerieten zu purem poetischem Belcanto-Glück.
Dazu kam das umfangreiche, die Stimmung der Szene so wunderbar bereichernde Violin-Solo: Der Geiger Thomas C. Wolf kam als Straßenmusikant auf die Bühne und spielte – mit dem Geigenkasten vor sich – diese überaus berührende Musik in den Gängen der U-Bahn. Mit viel Stimmschönheit gestaltete der weltweit gefragte Countertenor Artem Krutko die Rolle von Ruslans Jugendfreund – und schließlich Geliebtem – Ratmir. Als seine so ordinär-nuttig gekleidete on/off Geliebte Gorislawa wusste Natalia Tanasii überaus zu gefallen. Einen fulminanten Auftritt hatte sie im Bahnwagen als Organisatorin der Tunten-Party. Alexei Botnarciuc gab dem bodenständigen Farlaf markantes Profil, Nicky Spence begeisterte in der Doppelrolle als Erzähler (Barde) und als guter Zauberer Finn mit wunderbar geführtem Tenor! Keine Geringere als Angela Denoke (habe sie als Kundry in Zürich, als Küsterin in Stuttgart und als Marschallin in Mannheim in allerbester Erinnerung) sang die Rolle der Naina mit starker stimmlicher und szenischer Präsenz und Tigran Martirossian war der Respekt gebietende Vater Ljudmilas, Swetosar.

Azim Karimov leitete das Philharmonische Staatsorchester Hamburg (inklusive zweier Bühnenorchester) und sorgte zusammen mit den Musikern vor allem in den leisen, poetischen Passagen für ein subtiles Spiel der klanglichen Farben. Einige der rasanteren Abschnitte der Partitur hätten nach meinem Empfinden durchaus etwas mehr an Verve vertragen können. Der Chor der Hamburgischen Staatsoper (Einstudierung: Alice Meregaglia) löste seine dankbaren Aufgaben mit feinem Gespür für die Dynamik. Ein grosses Lob gebührt der Komparserie der Hamburgischen Staatsoper und vor allem den vielen Crossdressern und Transvestiten im dritten Akt!
Alles in allem ist mit dieser Produktion die Wandlung der ziemlich langen (3h 20min, inklusive einer Pause) Märchen- und Zauberoper Glinkas zur kurzweiligen Seelenanalyse mit überraschender Katharsis gelungen.
Kaspar Sannemann 26. November 2025
Rusaln und Ljudmila
Michail Glinka
Staatsoper Hamburg
22. November 2025
Regie: Alexandra Szemerédy & Magdolna Parditka
Dirigat: Azim Karimov
Philharmonische Staatsorchester Hamburg