Berlin, Ballett: „Winterreise“, Franz Schubert/Hans Zender

Winterreise im Mai

Welcher Klassikfreund hat nicht mindestens zwei Aufnahmen von Franz Schuberts Die Winterreise, eine Langspielplatte und eine CD, gesungen von Dietrich Fischer-Dieskau, im Schrank, vielleicht auch eine in der Originaltonart für Tenor, aber bitte nicht mit Peter Schreier, im Laufe der Zeit kam noch eine Aufnahme mit Cello-Begleitung dazu oder mit einem Streichquartett, auch Bässe scheuten nicht vor dem Liederzyklus zurück. Anfängliches Befremden lösten noch die ersten von Frauenstimmen, vor allem von Mezzosopranen wie Fassbaender, von Otter oder unlängst Joyce di Donato aus, den allerentschiedensten Schritt aber unternahm wohl Hans Zender mit seinem Schuberts Winterreise für ein kleines Orchester, bestehend aus so unterschiedlichen Instrumenten wie „die Archaik von Akkordeon und Gitarre , die Salonkultur des Streichquartetts, die extrovertierte Dramatik der spätromantischen Sinfonik, die brutale Zeichenhaftigkeit moderner Klangformen“. Auch ein Orchester aus der Ferne, die Musik eines bäuerlichen Leichenzugs oder das Posthorn finden sich in der Partitur wieder. Bleiben die Melodien weitgehend erhalten, so ändert sich zum Beispiel im abschließenden Leiermann der ruhige Rhythmus der Drehfigur ins Instabile. Das Orchester begleitet im Unterschied zum Piano nicht nur, sondern macht Eis, Sturm, Einsamkeit hörbar. Hans Zenders Fassung für Tenor, die er als „kompositorische Interpretation“ bezeichnete, ist 1993 in Frankfurt uraufgeführt worden, und er hatte wohl noch weitere Pläne zur Bearbeitung anderer Werke, starb aber, ehe er sie verwirklichen konnte.

© Carlos Quezada

Die neue Fassung der Winterreise erweckte das Interesse mehrerer Choreographen, so befassten sich John Neumeier und Gregor Zöllig damit, und in Zürich wurde 2019 die Wintereise in der Choreographie von Christian Spuck uraufgeführt, für die er den Prix Benoit de la Danse erhielt. Von der Züricher Aufführung gibt es auch ein Video. Allerdings will der Choreograf die Berliner Winterreise nicht als Wiederaufnahme der Zürcher wissen, sondern betont, dass er sich das Video vor Beginn der Proben an der Berliner Staatsoper bewusst nicht angesehen hat, auch weil er der Meinung ist, dass „das Thema heute viel relevanter ist als 2018“ (als die Proben in Zürich begannen). Bühne und Kostüme sind zwar dieselben wie in Zürich, aber: “Es macht mir sehr viel Spaß, das Material weiterzudenken und auf die Körper der Tänzer und Tänzerinnen des Staatsballetts Berlin anzupassen“, so die Aussage in einem Interview in der Berliner Morgenpost.

Zunächst mag es befremdlich, wenn nicht unmöglich erscheinen, mit einer Balletttruppe das Schicksal eines einzelnen Menschen, ja Wesens, sieht man vom Leiermann, der Krähe oder den Dorfkötern ab, darzustellen. Es geht Spuck aber nicht um eine schlichte Bebilderung der Winterreise, sondern darum, dem konkreten Originalbild, so etwa dem des Lindenbaums, etwas Abstraktes entgegenzusetzen. Das Bühnenbild von Rufus Didwiszus ist ein grauer Kasten mit einer Erhöhung, so meint man zunächst, an der Seite, bis sich diese als ein Haufen aus Menschenleibern entpuppt, die, sich erhebend, aus dem Etwas ein Grab werden lassen. Leuchtstoffröhren dienen nicht nur der Erhellung der Szene, sondern sind Interpretation, indem sie sich in unterschiedlicher Gruppierung heben und senken. Der Winterszeit wird dadurch Tribut gezollt, dass es ab und zu partiell oder sich über die gesamte Bühne erstreckend schneit. Ab und zu auch taucht eine Krähe auf der Hand eines Tänzers auf, doch erst zum abschließenden Leiermann bevölkern die Vögel in größerer Anzahl die Bühne und wirken wie Totenvögel. Es gibt keine grellen Farben bei den Kostümen von Emma Ryott, nur Schwarz, Beige, Grau oder Weiß, am Schluss wird Nacktheit vorgetäuscht.

Beginnen wir mit dem schwächsten Glied im Trio von Tanz, Orchestermusik und Stimme, letztere von Tenor Matthew Newlin, wohl recht kurzfristig eingesprungen, denn zunächst war ein anderer Tenor vorgesehen. In Zürich hatte Mauro Peter gesungen und hatte mit seinem auf einem soliden baritonalen Fundament ruhenden Tenor für eine beachtliche vokale Präsenz sorgen können. Der recht leichte lyrische Tenor von Newlin mit nicht unverwechselbarem Timbre musste, was seine Bedeutung in der Gesamtproduktion anging, ins zweite Glied zurücktreten, was auch nicht daran lag, dass er nur zweimal auf der Bühne erscheinen durfte, ansonsten auf einer Höhe mit dem Dirigenten aus dem Orchestergraben sang. Hier waltete Dominic Limburg in feiner Abstimmung mit der Bühne und für Ausgewogenheit zwischen den einzelnen Orchestergruppen sorgend seines Amtes.

© Carlos Quezada

Hervorragend und ohne jeden Ausfall bewältigten die Tänzer des Staatsballetts ihre höchst anspruchsvollen und vielseitigen Aufgaben. Die einzelnen Lieder waren von Christian Spuck mal klar voneinander getrennt, manchmal ging das eine Lied und damit das eine Bild in das andere über, die Optik atmete aber stets eine strenge Reinheit oder reine Strenge. Bereits in Gute Nacht fielen Jan Casier und Danielle Muir durch kraftvolle Eleganz auf, eindrucksvoll gestalteten Mark Geilings und Dominic Whitbrook den Rückblick, natürlich enttäuschte Primaballerina Polina Semionova weder in Frühlingstraum noch in Letzte Hoffnung, sondern bezauberte einmal mehr das ihr ergebene Berliner Publikum durch Grazie und Ausdruckskraft. Unbedingt erwähnenswert sind auch Vera Segova (Der Lindenbaum und Auf dem Fluss), Weronika Frodyma (Der greise Kopf), Rafaelle Queiroz (Der Wegweiser), all die anderen Solotänzer und das gesamte Corps de ballet. Eine wunderbare Gesamtleistung – und trotzdem werde ich mir demnächst einmal wieder die alte Langspielplatte mit dem jungen Dietrich Fischer-Dieskau auf den Plattenteller holen.

Ingrid Wanja, 11. Mai 2025


(Die) Winterreise
Franz Schubert/Hans Zender

Staatsballett Berlin in der Staatsoper Unter den Linden

Premiere am 11. Mai 2025

Choreographie Christian Spuck
Musikalische Leitung Dominic Limburg
Orchester der Staatsoper Berlin