Der Chor erscheint als erster: als ein einziger, monumentaler Solist. Er macht auch den Schluss, er geht unter, wenn aus dem Ascheregen ein Feuerregen wird, der vom Himmel auf die Altgläubigen zu fallen scheint. Der erste Beifall gehört, völlig zurecht, ihm allein.
Nicht allein das Schlussbild der Chowanschtschina ist eindringlich, aber es macht noch zuletzt klar – nachdem wir vier Akte lang auf die politischen Kämpfe, Intrigen und Wirren geschaut haben–, dass es, wenn wir von Opfern reden, vor Allem und doch nicht allein das Kollektiv meint. Modest Mussorgsky, dieser grandiose Außenseiter der Opernkunst des 19. Jahrhunderts, hat sich mit seinen zwei bekanntesten Werken tief in die Geschichte der Chor Oper hineingeschrieben, die auf so ziemlich alle Konventionen einer „normalen“ Oper seiner Zeit verzichten konnte; die Beziehung zwischen Marina und dem falschen Dimitri kann ja kaum als „Liebe“ bezeichnet werden, und auch Marfa und Andrei Chowanski verbindet Einiges, aber sicher keine klassische amouröse Geschichte. Chowanschtschina: das ist ein Riese, der zwar unvollendet blieb, weil der Komponist lediglich ein Particell von fünf umfangreichen Akten vorlegte, denen vermutlich nur noch ein Schlusschor im 2. und das Finale fehlte, aber doch in seiner zuletzt kanonischen Aufführungsfassung in der Instrumentation Dmitri Schostakowitschs ein vollgültiges Werk geworden ist, dem nichts mangelt. Dass es relativ selten gespielt wird, liegt sicher nicht an der Qualität, sondern der Vermutung, dass man mit dem Politdrama keine dauerausverkauften Häuser zustande bringt. Am Abend des 2. November 2025 war die Staatsoper unter den Linden aber denn doch zu Dreivierteln gefüllt, was als großer Erfolg gebucht werden kann – und die Schlussreaktion war denn auch eindeutig: eindeutig zustimmend.

Hatte man verstanden, dass die altrussische Geschichte der Verschwörungen, Aufstände, Hinrichtungen, Lügen und Verbrechen im Grunde eine Geschichte für alle Zeiten ist? Schaut man auf die wieder von Christian Schmidt kongenial entworfene Bühne, so zeigt die Inszenierung von Claus Guth eine für seine Verhältnisse durchaus ungewöhnliche Nähe zu einer historistischen Inszenesetzung, wie man sie hierzulande kaum noch gewöhnt ist. Man agiert in sogenannten herrlichen, historischen Kostümen, bewegt sich rollen- und handlungskonform durch die Räume und tut erst gar nicht so, als hätten wir es mit einem Vorschein der stalinistischen Ära oder gar der Gegenwart zu tun – doch durchziehen immer Brüche die Szene. Wenn die Strelitzen nach ihrer Begnadigung durch den neuen Zaren Peter I., gen. der Große, durch eine kurze, heftige und erwartbare Maschinengewehrsalve getötet werden, ist’s zwar gegen den Text, aber nicht gegen die Geschichte an sich. Das exzellente Programmheft macht mit der Lesart vertraut, dass es hier nicht allein um die russische, sondern um die Menschheitsgeschichte geht, die bekanntlich im Blut der Völker watet. „Das Vergangene im Gegenwärtigen“, so lautet der berühmte Kardinalsatz, den Mussorgsky seiner Oper, zu der er selbst das Textbuch schrieb, beigab. Man könnte umgekehrt auch sagen: „Das Gegenwärtige im Vergangenen“.
Nur so ist eine der brutalsten Szeneninterpretationen verständlich: Wenn sich Iwan Chowanski, der bald danach ermordet werden wird, laut Libretto von persischen Sklavinnen etwas vortanzen lässt, lässt Guth die Sufis, also die friedlichsten Gläubigen unter der islamischen Sonne, vom völlig entmenschlichten Chowanski, der über ein einschichtiges und relativ derbes Leitmotiv verfügt, sinnloserweise dahinmetzeln. Dass tanzende Sufis mit ihren sanft wirbelnden Gewändern wunderbar zu der wunderbaren Ballettmusik Mussorgskys passen, ist das Eine. Dass sie in einer expliziten, von Sommer Ulrickson choreographierten Interpretation dieses erstaunlich heiteren Zwischenspiels im Sinne eines radikalen „Regietheaters“ nicht nach dem Geschmack jedes Zuschauers sind, versteht sich. Auch der Rezensent mag es nicht, wenn Sufis ermordet werden: weder in der Realität noch auf einer Bühne, aber versteht man diese Chowanschtschina als Begegnung zwischen Gestern und Heute, ist die Darstellung auf bizarre Weise akzeptabel. Auch das Finale der Oper ist ja alles andere als ein lieto fine, ja: dieses Opernfinale ist neben dem der Hugenotten, des Lear, des Rigoletto, der Soldaten und nicht zuletzt des Boris Godunow eines der pessimistischsten und hoffnungslosesten der Opernbühne. Im Übrigen war die Geschichte bzw. das, was wir uns unter ihr vorstellen, noch nie oder doch nicht immer sinnvoll.

Erträglich und kurzweilig ist das alles nur, wenn potente Sängerpersönlichkeiten die Figuren spielen, mit denen man sich unmöglich identifizieren kann, die man jedoch immer interessant finden kann. In Berlin steht mit Taras Shtonda ein Dossifei auf der Bühne, wie man es von einem altgläubigen Popen erwartet: orgelnd. Mussorgskys Lehrer Wladimir Stassow nannte das Väterchen, das seine Schäfchen in den Massenselbstmord hineinführt, einen „russischen Savonarola“, in Berlin wirkt er eher friedlich, wenn auch nicht harmlos, und bewusst statisch. Steht er massiv auf der Bühne, wird die Frage nach einer speziellen Regieinterpretation jedoch völlig unwichtig; der Regisseur kann da, gleichgültig in welchem Rahmen, ganz auf den Sänger und seine Figur vertrauen. Mika Kares ist der Chowanski; auch der seriöse Bass hat das, was man als „Röhre“ zu bezeichnen pflegt, und auch, wenn man den Verdacht nicht abwehren kann, dass die Staatsoper unter den Linden mit einem Electronic Acoustic Enhancement System den Klang verstärkt und damit manipuliert, bleibt Kares’ Chowanski schon deshalb brillant, weil er eben nicht allein über einen gewaltigen Klangerzeugungsapparat, auch über die nötige Sensibilität verfügt, um den Machtmenschen Chowanski als brutales Individuum zu gestalten. Marina Prudenskaya spielt die einzige relevante weibliche Rolle, als Marfa ist sie in genau jenem Repertoire zuhause, das ihrer Stimme, ihrem Idiom und ihren Möglichkeiten äußerst angemessen ist. In summa bietet sie eine hinreißende vokale wie gestische Gestaltung der Altgläubigen, die erst die deutsche Lutheranerin aus den Fängen des ehemaligen Geliebte befreit, zwischendurch den Fürsten Golizyn als Wahrsagerin berät und schließlich mit dem jungen Chowanski in den Feuertod geht. Der jugendliche Heldentenor heißt Thomas Atkins und erfüllt seine Aufgabe mit Bravour und einem nicht über alle Zweifel erhabenen Ton, aber Andrei Chonwanski ist ja auch kein Schönsing- und Gutmensch, sondern ein Vergewaltiger, dem Mussorgsky zuletzt, im Duett mit Marfa, leiseste und anrührendste Töne in die Gurgel hineinlegte, die er berührend macht. Es hätte indes nicht viel gefehlt und Emma alias Evelin Novak wäre unter ihn geraten. Fürst Golizyn ist der Europäer unter den Protagonisten – Stephan Rügamer singt und agiert auch so: elegant, wendig, spielfreudig. Großartig auch der Schaklowity des George Gangnidze, dessen Charakterbariton zumindest für nichtrussische Ohren höchst authentisch klingt. Dass er seine vielleicht nur aufs erste Hören seltsame patriotische Arie (seltsam, weil wir einem skrupellosen Machtpolitiker idealistische Motive kaum abnehmen, doch genau hierin besteht Mussorgskys Realismus) glänzend, aber nicht präpotent singt, versteht sich fast von selbst. Bleibt unter den Hauptnebenrollen, die auch als Hauptrollen bezeichnet werden können, ja müssten, der starke Schreiber des Andrei Popov.

Der Staatsopernchor und der Kinderchor der Staatsoper verbürgen unter der Leitung von Dani Juris eine Authentizität des russischen Klangs, die aus dieser Chowanschtschina eine auch musikalisch werkgerechte Aufführung machen. Denn Timur Zangiev, der das Dirigat von Simone Young übernahm, weiß, wie man Mussorgskys / Schostakowitschs und am Schluss Igor Strawinskys Orchester zum Leuchten, Dämmern und Explodieren bringt, ohne dass man den Eindruck hat, dass die Musiker der Staatskapelle ruppig aufdrehen würden. Es macht einfach Freude, den dunklen Bläsern wie den glitzernden Zauberklängen einer prophetischen Beschwörung, den triumphalen Aufmärschen wie dem den melancholischen Ton angebenden Vorspiel zu folgen.
Werkgerecht ist der Abend nicht allein als musikdramatisches Kunstwerk von höchster Spannung, weil die Güte des Ausnahmewerks bruchlos bewiesen wird. Claus Guth, sein Bühnenerfinder und die Kostümgestalterin Ursula Kudma haben das Kunststück zustande gebracht, eine sogenannte traditionelle Inszenierung mit einer modernen zu verkuppeln. Anders gesagt: Wenn man die relativ wenigen ins Heute datierbaren Bühnenelemente eliminieren würde, hätten wir es mit einer „ganz normalen“, wie gesagt: historistischen Inszenierung zu tun. Um die Anbindung nicht allein an die Gegenwart, sondern auch an unsere Art und Weise, rekonstruktiv an das späte 17. Jahrhundert und an Mussorgskys neuartige Dramaturgie der Geschichtsdarstellung heranzugehen, szenisch umzusetzen, erfanden Guth und sein Team eine Gruppe von Männchen, die man als „Forscher“ oder „Archivare“ bezeichnet hat. Sie arrangieren gleichsam die Rekonstruktionen einzelner Episoden aus den Machtkriegen der frühen Epoche Peters des sog. Großen, um sich ein experimentelles Bild der nur leicht diffus verstehbaren Vergangenheit zu machen. Der Inszenierungstrick ist nachvollziehbar, theatralisch nicht immer ergiebig, aber auch nicht falsch; fast witzig, wäre es nicht so traurig, ist die Verkündigung, dass das Experiment am 2. November 2025 um 19.58 abgebrochen werden musste: Die Geschichte gerät außer Rand und Band, den Einzelopfern folgen die kollektiven.

Was wir sehen, ist also ein Bilderbogen, der auch, gut didaktisch, die bekannten, auch im Programmbuch reproduzierten Bilder der Geschichte an uns vorüberlaufen lässt. Wassilij Surikows Am Morgen der Hinrichtung der Strelitzen kündet ihre spätere Exekution nach stalinistischem Vorbild an, Pjotr J. Massohedows Awwakum auf dem Scheiterhaufen gibt die historische Vorlage für Dossifeis Schicksal, die neu auftretenden Figuren werden, dafür sorgt die PC-Präsentation, kurz vorgestellt, und während Schaklowiti vom Elend des Heimatlandes singt, sehen wir – wenig überraschend, dramaturgisch abgenützt und trotzdem bannend, weil die Geschichte sich nicht um dramaturgische Originalität kümmert – alte und neue Filme, wir sehen das russische und sowjetische Militär, wir sehen die Revolution und Volksaufstände zwischen dem frühen 20. Jahrhundert und heute. In den leeren schwarzen Bühnenraum schieben sich immer wieder Teilstücke historistischer Räume, die sich in die Obermaschinerie heben und wieder niedersinken; auch der Chor versinkt im Untergrund, während Dossifei und ein Video-Begleiter durch die Reihen der Altgläubigen wandern und uns zeigen, wie die Masse aus Individuen, schwarzweiß wie die alten Filme aus der Zaren- und Stalinzeit, formiert wird.
Hier Peter der Große, der schon als Kind mit Spielzeugsoldaten arbeitet und dessen Größe immer wieder von den „Forschern“ gemessen wird, wenn Spiel- und Geschichtszeit auseinanderdriften und gleichzeitig zusammenlaufen, dort die Statue des Zaren in einem Büro des Kreml, dessen Tür zuerst von einem Repräsentanten des modernen Russlands geöffnet, dann, nach der finalen Katastrophe des Massensuizids, geschlossen wird.
Was bleibt, ist nicht zuletzt die Erinnerung an einen grandiosen Chor, eine Masse aus Einzelnen, Männer und Frauen, Spiegel einer nicht allein russischen oder sowjetischen Geschichte. Wer jedoch am Abend Lust hatte, sich eine „typisch russische“ Oper von einem der ungewöhnlichsten und originellsten Opernkomponisten aller Zeiten anzuschauen und -zuhören, kam bereits voll auf seine Kosten.
Riesenbeifall, nicht allein für den Staatsopernchor.
Frank Piontek, 5. November 2025
Chowanschtschina
Modest Mussorgsky
Staatsoper Berlin
Besuchte Aufführung: 2. November 2025
Premiere 2. Juni 2024
Regie: Claus Guth
Dirigat: Timur Zangiev
Staatskapelle Berlin