Berlin, Konzert: „Britten, Mendelssohn Bartholdy“, Staatskapelle unter Alan Gilbert

© Peter Adamik

Benjamin Britten (1913 – 1976), am 22. November 1913 in Lowestoft, Suffolk, geboren, gehört bis heute zu den wichtigsten und meistaufgeführten Komponisten Großbritanniens. Er ist nicht nur Komponist, er ist auch ein außerordentlicher Pianist und Dirigent. Als Künstler, der Krieg und Unterdrückung ablehnt, versucht er, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Beginn des Kalten Kriegs Brücken der Verständigung zu bauen. Der 21. September 1960 wird der Beginn einer lebenslangen, inspirierenden Freundschaft über die Grenzen hinweg: Mstislaw Rostropowitsch spielt in London das erste Cellokonzert von Dmitri Schostakowitsch.  Britten, vom Solisten und der Komposition hellauf begeistert, geht sofort auf die von Rostropowitsch bei einem anschließenden Treffen beiläufig geäußerte Anregung ein, Britten möge doch ein Werk für das Violoncello schreiben. Ein Jahr später kommen sie wieder zusammen, um die Uraufführung der Sonate für Violoncello und Klavier op. 65 vorzubereiten. Beide sehr nervös, keiner der Sprache des anderen mächtig, bekämpfen ihre gegenseitige Unsicherheit mit einigen Gläsern Whisky. Britten, erinnert sich später: „Wir spielten wie Schweine, aber wir waren so glücklich“. Wie sehr Rostropowitsch Britten auch als Pianist schätzte, macht eine Äußerung deutlich: „Niemand spielt Schubert wie er. So ein einfühlsamer und perfekter Partner. Das lässt sich nicht wiederholen“. Rostropowitsch hat die Arpeggione-Sonate a-Moll D 821 von Schubert später nie mehr mit anderen Partnern gespielt.

Von einer Krankheit fast genesen, schreibt Rostropowitsch 1962 an Britten: „Wenn Du möchtest, dass ich mich wieder vollständig erhole, dann besuche bitte den Arzt, dessen Adresse lautet: The Red House, Aldeburgh, Suffolk. Nur wenn er ein brillantes Cellokonzert komponiert, werde ich wieder richtig gesund“. Natürlich war Britten gemeint. Schon am 3. Mai 1963 vollendet Benjamin Britten seine Symphony for Cello and Orchestra op. 68. Nach Übersendung des fertiggestellten ersten Satzes antwortet Rostropowitsch: „Das Beste, was je für ein Cello komponiert wurde“. Nachdem sich Britten viele Jahre mit Opern und Kammermusik beschäftigt hatte, rückt mit diesem Werk das Sinfonische wieder in den Vordergrund. Es wird am 12. März 1964 im Großen Saal des Moskauer Konservatoriums von Mrstislaw Rostropowitsch und dem Moskauer Philharmonischen Orchester unter Brittens Leitung uraufgeführt.

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Benjamin Britten wendet sich in diesem Werk bewusst vom bisher üblichen Konzept eines Instrumentalkonzerts ab und hin zu einer viersätzigen sinfonischen Struktur und Architektur, einem Allegro in Form eines Sonatensatzes, einem Scherzo, Adagio und einem Finale in der Gestalt einer Passacaglia. Ausdrucksstark der Beginn des ersten Satzes Allegro maestoso – auf die tiefen Bassinstrumente antwortet das Cello mit vollen, massiven Akkorden, die, wie verzweifelt, in immer höhere Lagen führen. Ein lebendiges Hauptthema wird abgelöst durch ein lyrisch getragenes tranquillo über Pizzicati der Streicher, wuchtige Pauken führen in das aktive Allegro zurück. Der Schluss nimmt noch einmal den Anfang auf, zu den tiefen Instrumenten des Orchesters kommen jetzt die hohen Holzbläser hinzu. Der sehr kurze zweite Satz Presto inquieto wirkt unruhig und düster. Sehr virtuose Solopassagen, thematisch abgeleitet aus drei Sekundenschritten in Auf – und Abwärtsbewegung, werden immer wieder von Bläserakkorden und schroffen Akzenten der Streicher unterbrochen. Kraftvolle Paukenschläge leiten das folgende, innig gesangvolle Adagio ein. Einige harmonische Wendungen lassen Bezüge zu Dowland und Purcell ahnen. Die Pauken sind es auch, die in die abschließende Solokadenz führen. Nahtlos schließt sich der letzte Satz Passacaglia. Andante allegro an. Das Cello und die Trompete stellen das Thema der Passacaglia vor. Aus dem langsamen Mittelteil entwickelt sich in einer großartigen, dem Solisten alle Kraft und Intensität abfordernden Steigerung das Finale in glänzendem D-Dur.

Der Komponist verstirbt am 2. Juli 1976 in seiner Heimat als Baron Britten of Aldeburgh in the County of Suffolk, verehrt als Orpheus Britannicus, als Henry Purcell des Zwanzigsten Jahrhunderts. Direkt nach Peter Pears, dem Lebensgefährten Benjamin Brittens, folgt Rostropowitsch dem Sarg seines Freundes.

Eine Aufführung der Symphony for Cello and Orchestra bedarf einer sehr sensiblen, klanglichen Feinabstimmung im Orchester, zwischen Solo und den korrespondierenden Instrumenten, höchst virtuoser Leistungen auf beiden Seiten und einer umsichtigen Leitung. In Alisa Weilerstein, geboren 1982 in Rochester, New York, findet das Werk eine Ideale Interpretin. Bereits im Alter von 13 Jahren debütiert sie mit dem Cleveland Orchestra und erobert sich rasch die bedeutenden Konzertpodien der Welt. Daniel Barenboims Bereitschaft, mit Alisa Weilerstein Elgars Cellokonzert für die Decca als Schallplatte zu produzieren, bedeutet eine Art Ritterschlag für die sechsundzwanzigjährige Solistin. Sie ist heute eine der international gefragten Cellistinnen. Am Anfang vielleicht in der Abstimmung mit dem Orchester noch nicht optimal, entwickelt sich ein wunderbares Miteinander. Alisa Weilerstein zeigt die anscheinend grenzenlosen Möglichkeiten ihres tief emotionalen und technisch souveränen Spiels. Hinreißend die Zugabe der Sarabande von Johann Sebastian Bach!

Felix Mendelssohn-Bartholdy (1809 – 1847), Sohn eines Bankiers, Enkel des berühmten Philosophen und Lessing-Freunds Moses Mendelssohn, wird am 3. Februar 1809 in Hamburg geboren. Die Familie flieht vor den Truppen Napoleons nach Berlin. Hier erhält er eine umfassende und die für die Zeit bestmögliche musikalische und humanistische Ausbildung. Carl Friedrich Zelter, der Leiter der Berliner Singakademie und Bach-Enthusiast, der Clementi-Schüler Berger, der Germanist Heyse werden seine Lehrer. Als Zelter 1821 seinem Freund Johann Wolfgang von Goethe den jungen Mendelssohn vorstellt, hat dieser bereits Singspiele, Schauspielmusiken und die ersten seiner frühen Streichersinfonien komponiert. Bei Aufführungen im großzügigen Gartenhaus des elterlichen Palais in der Berliner Leipziger Straße glänzt er als Komponist, Dirigent und Pianist. Mit der Ouvertüre zu Shakespeares Sommernachtstraum gelingt ihm 1826 ein Geniestreich. Als Zwanzigjähriger führt er mit der Singakademie die Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach erstmals nach dessen Tod wieder auf. Mendelssohn ist einer der meistgereisten Komponisten des 19. Jahrhunderts. Auf die Schweiz und Paris folgen mehrere Bildungsreisen nach England, Italien und Frankreich, natürlich, um sich auch dort als Komponist, Dirigent und Virtuose bekannt zu machen. Besonders in England finden die Kompositionen Mendelssohns sofort großen Anklang. Im Laufe seines Lebens besucht er neunmal die Insel. Nach der Berufung zum Städtischen Musikdirektor von Düsseldorf wird ihm 1835 die Leitung des Leipziger Gewandhausorchesters angetragen. Leipzig wird der Mittelpunkt seines Lebens und seiner künstlerischen Arbeit. Er führt das Orchester an die europäische Spitze und gründet 1843 das für Deutschland erste Konservatorium; die besten Interpreten und Talente zieht es in die Stadt. Historisch ist die von seinem Freund Robert Schumann angeregte Uraufführung der Großen Sinfonie in C-Dur von Franz Schubert. Mendelssohn stirbt am 4. November 1847.

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Doch schon im 19. Jahrhundert berichtet der Kritiker Eduard Hanslick von antisemitischen Strömungen, die „in Hass und Überhebung“ ihr „trauriges Geschäft“ betreiben. Es dauert später Jahre, bis Mendelssohn und seine Musik, von den deutschen Nationalsozialisten geächtet und verboten, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs endlich wieder die gebührende Anerkennung und Bewunderung erfahren.   

Wie die Hebriden-Ouvertüre op. 26 ist auch die Sinfonie Nr. 3 a-Moll op. 56 (Schottische) von Felix Mendelssohn-Bartholdygeprägt von den Erlebnissen seiner England-Reise im Jahr 1829. Hatte Mendelssohn vorher eine erfolgreiche Saison als Pianist und Dirigent in London absolviert, durchwandert er danach mit seinem Freund Karl Klingemann die herbe, unwirtliche Landschaft der schottischen Highlands, besucht in Edinburgh den Holyrood Palace, die einstige Residenz Maria Stuarts, mit seiner düsteren Vergangenheit. Der Ort hinterlässt bei Mendelssohn einen tiefen Eindruck. Er schreibt an die Familie in Berlin: „Ich glaube, ich habe heut da den Anfang meiner Schottischen Sinfonie gefunden“. Noch am gleichen Abend schreibt er eine Skizze nieder. Doch erst dreizehn Jahre später, im Januar 1842, vollendet er die Komposition.

 Eine melancholisch elegische Introduktion leitet den ersten Satz Andante con moto – Allegro un poco agitato ein. Die schwermütige Grundstimmung setzt sich in Haupt – und Seitenthema fort. Auch die lebhafte Durchführung hält an der dunklen Tönung fest. Die dramatische Coda, man ahnt den Fliegenden Holländer (1843!) von Richard Wagner, bringt schließlich noch einmal das Thema der Einleitung und führt damit in den zweiten Satz Vivace non troppo. Das durchsichtig und farbig instrumentierte und kontrapunktisch kunstvoll gearbeitete Scherzo ist beeinflusst von schottischer Folklore und ihrem fünfstufigen Tonsystem. Das burschikose Klarinettenthema wirkt wie eine Imitation des volkstümlichen Dudelsacks. Der dritte Satz Adagio nimmt in einem nicht enden wollenden, hymnischen Gesang die Stimmung des Anfangs wieder auf, nur unterbrochen von einem schroffen, rhythmisch akzentuierten Mittelteil. Ohne Unterbrechung geht der dritte über in den vierten Satz Allegro vivacissimo-Allegro maestoso assai. Ein markantes Hauptthema der Violinen mit scharfen Doppelpunktierungen charakterisiert das von Mendelssohn als kriegerisch bezeichnete, stürmisch befreiende Finale. Mendelssohn legt größten Wert auf die Einheitlichkeit des Werks. So verlangt er, „…mit den stimmungsmordenden Pausen“ aufzuräumen.

Die Schottische wird am 3. März 1842 unter Mendelssohns Leitung im Leipziger Gewandhaus uraufgeführt. Statistisch belegt ist, dass die Sinfonie bis zum Jahr 1881 nicht weniger als 28mal im Gewandhaus gespielt wird. Auch in England dirigiert Mendelssohn die Sinfonie und widmet sie der Königin Victoria von Großbritannien und Irland, die ihrerseits die Zueignung mit großem Vergnügen annimmt. Obwohl in der heutigen Werkzählung als Dritte geführt, ist sie eigentlich die letzte seiner Sinfonien, bewundert von Robert Schumann wegen ihrer formalen Dichte als „…ein eng verschlungenes Ganzes“.

Alan Gilbert (geb. 1967), bis 2017 Chefdirigent des New York Philharmonic Orchestra, ist heute Chef des Elbphilharmonie Orchesters in Hamburg und seit 2021 Musikdirektor der Königlichen Oper Stockholm und Ehrendirigent des Orchesters. Gilbert ist gern gesehener Gast bei den führenden Orchestern in den USA, in Asien und Europa. Mit aufmerksamer, zurückhaltender Zeichengebung erreicht er einen wunderbar durchsichtigen, sorgfältig dynamisch abgestuften Klang, selbst in den virtuosen Pianissimo -Abschnitten präzis und klar in der Deklamation. Der Solistin beim Britten den nötigen Raum gebend, gelingt ihm mit der Schottischen eine stimmungsvolle, empfindsame Interpretation ohne falsche Sentimentalität. Dabei leistet die Staatskapelle mit Konzertmeisterin Jiyoon Lee wirklich Außergewöhnliches.

Bernd Runge, 24. November 2025


Benjamin Britten: Symphony for Cello and Orchestra op. 68
Felix Mendelssohn Bartholdy: Sinfonie Nr. 3 a-Moll op.  56 (Schottische)

Staatsoper Unter den Linden, Berlin

24. November 2025

Alisa Weilerstein, Violoncello
Dirigent: Alan Gilbert
Staatskapelle Berlin