Das kleine Gießener Stadttheater gönnt sich große Oper. Der Orchestergraben ist für die Besetzung, die eine Tosca erfordert, zu klein, und so werden die Musiker auf der Bühne postiert, wo sie die gesamte hintere Hälfte einnehmen. Der Graben ist dagegen abgedeckt und erweitert die Bühne zum Zuschauerraum hin. Die Nähe zum Publikum nutzt Regiedebütant Martin Andersson, um mit seinen darstellerisch überzeugenden Protagonisten ein dichtes Kammerspiel aufzuführen. Dazu braucht es nur wenige Requisiten: Ein Gerüst für den Maler Cavaradossi, die Tür zu einer Kapelle, ein Weihwasserbecken, einige Blumen für die Kirche im ersten Akt, einen Schreibtisch und ein Sofa für Scarpias Büro im Palazzo Farnese im zweiten Akt und eine nackte Pritsche für Cavaradossis Gefängniszelle im dritten Akt. Die Handlung wird an die Gegenwart herangerückt, wie die modernen Kostüme verraten. Das ist aber für das Spiel auf der Bühne nicht entscheidend. Es läuft flüssig, spannend und ohne Regiemätzchen ab. So könnte auch eine traditionelle Tosca in historischen Kostümen funktionieren.
Darüber legt der Regisseur aber eine zweite Ebene: „Drei junge Menschen in einer Diktatur: Einer hat sich dafür entschieden, von dem System zu profitieren und auf Moral zu verzichten. Ein anderer – ein Künstler – entscheidet sich für den Widerstand und muss dafür mit seinem Leben bezahlen. Die Dritte – die gefeierte Sängerin Tosca – wählte die Kunst und hofft, damit außerhalb des Systems bleiben zu können.“ So präsentiert das Produktionsteam seinen Inszenierungsansatz. Daß dieser nicht bloße Behauptung bleibt, dafür sorgen Videoeinblendungen, welche auf fünf in halber Bühnenhöhe angeordnete lamellenartige Segel projiziert werden. Hier sieht man Szenen, in denen die drei Protagonisten tatsächlich als junge Leute in Freizeitkleidung zu sehen sind: Scarpia mit Tosca bei der Fahrt auf einer Vespa durch Rom an einem Sommerabend, alle drei beim vergnügten Wasserspiel am Strand, aber auch – passend zur entsprechenden Textstelle – Scarpia, wie er eifersüchtig ein Tête-à-Tête von Tosca mit Cavaradossi beobachtet. Vielleicht hat es diese Szenen tatsächlich gegeben, vielleicht sind sie nur Wunschbilder Scarpias. Unten auf der Bühne jedoch erscheint er in einer faschistischen Fantasieuniform. Diese Kontrastierung von Bühnengeschehen und Videosequenzen ist sehr reizvoll und verleiht dem Kolportage-Plot des Librettos Tiefe, ohne dabei aufdringlich zu wirken. Im zweiten Akt zeigen mit einer Live-Kamera hinter einem transparenten Vorgang aufgenommene Bilder Details von der Folterung Cavaradossis, im dritten Akt gönnt der auch für die Videos verantwortlich zeichnende Regisseur sich eine Portion Kitsch, indem er zu „E lucevan le stelle“ auf den Leinwänden tatsächlich Sterne funkeln und die Soloklarinettistin Manaka Taniguchi aus dem Orchester zu Cavaradossi heraustreten läßt, wo sie – durch ihr Kostüm als Erinnerung an Tosca markiert – den Sänger sanft umspielt. Ein wenig politisch darf es auch werden, so zu Beginn, wenn man Andreotti in orangefarbener Häftlingskleidung den Stacheldraht eines Gefangenenlagers knacken sieht oder wenn zum Aufmarsch der Priester und Ministranten am Ende des ersten Aktes historische und aktuelle Bilder die Anbiederung von hohen Geistlichen an Gewaltherrscher zeigen. Die Parallele zum Bühnengeschehen liegt bei Letzterem derart auf der Hand, daß es dieses Hinweises mit dem Zeigefinger nicht bedurft hätte.
Das groß besetzte Philharmonische Orchester Gießen zeigt sich unter der Leitung von Andreas Schüller in guter Form. Die Musiker präsentieren Puccinis farbige Partitur detailreich und luzide. Dabei halten sie sich mit der Lautstärke so nobel zurück, daß das Kammerspiel im Vordergrund nicht übertönt wird. Selbst das Te deum am Ende des ersten Aktes dröhnt nicht. Die jungen Sänger werden zu keinem Zeitpunkt zum Forcieren gedrängt. Es ist eine starke Besetzung zu erleben, die indes unterschiedlich gut mit den akustischen Verhältnissen des kleinen Theaters zurechtkommt. Grga Peroš hat hier als Ensemblemitglied einen Heimvorteil. Als Scarpia zeigt er sich in stupender Form und zeichnet das differenzierte Porträt eines enttäuschten Liebenden, der zum zynischen Gewaltmenschen wird. Mit seinem in allen Lagen gut durchgeformten Stimmmaterial kann er auf Kraftmeierei und Chargieren verzichten. In der Titelpartie überzeugt Margarita Vilsone mit ihrem hellen, klaren Sopran, den sie indes gelegentlich ein wenig zu stark aufdreht. Ihr Stimmvolumen könnte mühelos weitaus größere Säle füllen. Michael Ha als Cavaradossi offenbart Spinto-Qualitäten und genießt es sichtlich, saftige Spitzentöne in den Zuschauerraum zu schleudern. Bei der Rücknahme der Lautstärke wirkt das Timbre ein wenig blaß. Insgesamt jedoch ist ein gut aufeinander abgestimmtes Trio in den Hauptpartien zu erleben, das auch an weit größeren Häusern mühelos bestehen könnte. Ausgezeichnet sind auch die Nebenrollen besetzt. So gefällt Clarke Ruth als Andreotti mit kernigem Baßbariton, weiß Tomi Wendt als Küster die Gelegenheiten zum Humor zu nutzen, zeigen Beau Gibson als Spoletta und Nikolay Anisimov als Sciarrone auch in ihren kurzen Einsätzen stimmliches Format.
Insgesamt ist ein musikalisch runder und szenisch spannender Abend zu erleben, der dem Gießener Stadttheater zur Ehre gereicht.
Michael Demel, 31. März 2023
Giacomo Puccini: Tosca
Stadttheater Gießen
Bericht von der Premiere am 25. März 2023
Inszenierung: Martin Andersson
Musikalische Leitung: Andreas Schüller
Philharmonisches Orchester Gießen
Weitere Aufführungen am 14. und 16. April sowie am 25., 27. und 29. Mai.