Nach fast genau zwanzig Jahren hat sich die Staatsoper erneut der hierzulande selten gespielten Belcanto-Oper in einer Neuinszenierung angenommen und damit die wohl berühmteste Liebesgeschichte der Literatur auf die Bühne gebracht. Romeo und Giulietta haben sich bei Bellini und seinem Librettisten Felice Romani schon längere Zeit vor Beginn der Handlung unsterblich ineinander verliebt, obwohl sich ihre Familien, die Capuleti und die Montecchi, in einer Dauerfehde befinden. Dass dies ein ausgewachsener Krieg ist, wird bereits während der Ouvertüre deutlich: Auf der zunächst dunklen Bühne stellen sich Eltern in flämischer Festbekleidung des 16. Jahrhunderts mit ihren Kindern auf, einem Geschwisterpaar, das die Eltern aber bald verlässt. Die Silhouette eines Panzers schiebt sich ins Bild, und der Sohn der Familie wird von einem jungen Mann, auch in historisierender Kleidung, erschossen. Dass dies Romeo und Giuliettas Familie sind, kann man erst später so richtig zuordnen, wenn die handelnden Personen und die Chorherren in zeitloser, eher moderner Kleidung mit plakativer Farbgebung auftreten (Kostüme: Agathe MacQueen).
Die Opernhandlung setzt damit ein, dass Giuliettas Vater Capellio den Tod seines Sohnes betrauert; dies wollen Tebaldo und die Capuleti rächen. Ein weiteres wichtiges Element der Inszenierung des Regisseurs Michael Talke ist die Einführung von Ausschnitten aus den Paradiesbildern des flämischen Malers Jan Brueghel dem Älteren (1568-1625), die sich immer wieder ins Bild schieben (Bühne: Thilo Reuther). Mit Hilfe eines vollständigen Paradiesbildes und den sichtbar werdenden großen Ausschnitten flüchtet sich Gliulietta gern aus der bedrückenden Gegenwart und träumt von einer paradiesischen Zukunft. Durch das häufige begleitende Auftreten der „historischen“ Personen und die Wiederholung der Erschießung von Giuliettas Bruder wird den Zuschauern klar gemacht, wie sehr sie trotz der starken Liebe zu Romeo an ihrer Familie festhält. Insgesamt entstehen so durchaus stimmige Bilder, zu denen manche Handlungen allerdings albern wirken, wie das Rumgezerre der Männer an Giuliettas Brautkleid oder das Ein- und Auspacken von Kleidungsstücken in einen Koffer, während sich Romeo und Giulietta darüber streiten, ob sie sich dem Ganzen durch Flucht entziehen. Irritierend ist auch die Albernheit, dass sich einige Männer zur bevorstehenden Hochzeit Giuliettas mit Tebaldo mit Brautkleidern und Schleiern schmücken. Schließlich überzeugt der Schluss nicht, wenn abweichend vom Libretto Giulietta nicht ihrem Romeo folgt, sondern sich den Koffer schnappt und, wie es im Programmheft heißt, „die Flucht ergreift“.
Die Albernheiten und Ungereimtheiten der Inszenierung waren letztlich unerheblich, weil sich die Premiere als wahrlich grandioses Stimmenfest herausstellte. Das lag vor allem an den beiden völlig gleichwertigen Sängerinnen der Hauptpartien, deren jeweils charakteristische Stimmen aufs Beste zusammenpassten. Fast die ganze Zeit auf der Bühne gestaltete die US -Amerikanerin Meredith Wohlgemuth, seit Beginn der Spielzeit neu im hannoverschen Ensemble, die Giuliettain anrührender Weise. Sie ließ einen klaren, durchgehend intonationsreinen Sopran hören, den sie mit feinstem Belcanto durch alle Lagen führte. Besonders gefielen das wunderbare piano in den vielen lyrischen Passagen; aber auch mit den zahlreichen, niemals grellen Spitzentönen hatte sie keinerlei Probleme. Ihr Romeo war die Niederländerin Nina van Essen, die mit glaubhaftem Spiel und fülligem Mezzosoprantief beeindruckte. Ihre kräftige, stets höhensichere Stimme tendiert inzwischen deutlich zum dramatischen Fach.
Tenoralen Glanz verbreitete Marco Lee als Romeos Gegenspieler Tebaldo. Darstellerisch blass blieb als Capellio der junge polnische Sänger Jakub Szmidt aus dem Opernstudio der Staatsoper, dessen markiger Bass positiv auffiel. Lorenzo war mit großvolumigem Bass der Finne Markus Suihkonen; dass er ein unmögliches Outfit trug, ist ihm nicht anzulasten. Der jeweils lebhaft agierende Herrenchor entwickelte in der Einstudierung von Lorenzo Da Rio gut ausgewogene, mächtige Klänge.
Die musikalische Gesamtleitung hatte Andrea Sanguineti, seit kurzem GMD in Essen, der mit präziser Zeichengebung für den nötigen Zusammenhalt sorgte. Das Niedersächsische Staatsorchester hatte einen sehr guten Abend; es wirkte in allen Gruppen bestens vorbereitet und gefiel mit mehreren hervorragenden Instrumentalsoli, die am Schluss auch gesondert gefeiert wurden. Überhaupt war der Beifall des begeisterten Publikums lang anhaltend und stark; er galt allen Mitwirkenden von den Solisten über die Chorherren bis zur Statisterie und ebenso dem Regieteam, das sich allerdings einige wenige Buhrufe gefallen lassen musste.
Gerhard Eckels, 12. November 2023
I Capuleti e i Montecchi
Lyrische Tragödie von Vincenzo Bellini
Staatsoper Hannover
Premiere am 11. November 2023
Inszenierung: Michael Talke
Musikalische Leitung: Andrea Sanguineti
Niedersächsisches Staatsorchester Hannover
Weitere Vorstellungen: 16. und 22. November, 1. ,10., 12., 16., 21., 28. und 30. Dezember 2023