30. Juni 2021 und 3. Juli 2021, Helmut-List-Halle Graz
Klezmer Bridges – Il castrato
Den steirischen Festspielen ist es gelungen, in zwei Konzerten knapp hintereinander zwei Weltklasse-Solisten aus ganz unterschiedlichen musikalischen Welten und ganz unterschiedlichen Alters zu präsentieren und damit eindrucksvoll die enorme Bandbreite dieses Festivals mit seinen über 80 Veranstaltungsterminen innerhalb eines Monats unter Beweis zu stellen.
Der im 86.Lebensjahr stehende Klarinettist Giora Feidman, oft und zu Recht als King of Klezmer bezeichnet, war am 30. Juni mit dem Programm Klezmer Bridges umjubelter Mittelpunkt im mit rund 600 Plätzen wohl ausverkauften Saal.
Auf Feidmans Homepage ist – für jene, die ihn noch nicht kennen – zu lesen:
Giora Feidmann wird am 25.03.1936 als Sohn jüdischer Einwanderer aus Bessarabien in Argentinien geboren. Er hat die Musik im Blut: Sein Vater ist Musiker wie schon der Großvater. "Von Anfang an, vom Tag meiner Geburt haben mich Lieder begleitet. Fast immer vollzieht sich unsere erste Berührung mit Musik durch eine menschliche Stimme, deren Singen uns beruhigt, uns tröstet, uns fröhlich macht. Für mich waren das die jiddischen Lieder, die meine Mutter für mich sang, als ich ein kleines Kind war – und später als junger Musiker die Lieder von Schubert. Mit beiden bin ich groß geworden, von beiden habe ich gelernt und beide sind mir sehr nah."
Im Jahre 2017 entstand die CD Feidman plays Beatles! , auf der wunderbare kammermusikalische Bearbeitungen für ein Cello-Quartett und Klarinette zu finden sind, die allesamt von Sergio Drabkin stammen, einem der vier Mitglieder im Rastrelli Cello Quartett Sechs Nummern daraus bildeten den Kern des diesmaligen Programms – alle Details dazu finden Sie bei Interesse im Programmheft. Im Booklet zur CD schreibt Giora Feidman: Ohne die Vier vom Rastrelli Quartett hätte ich das so nicht hinbekommen – sie hatten entscheidenden Anteil – sie haben das Beste aus mir herausgeholt.
Und tatsächlich: diese vier Cellisten seien unbedingt auch namentlich genannt – sie waren großartig und auf dem selben Niveau wie der unvergleichliche Giora Feidman: Kira Kraftzoff, Misha Degtjareff, Kirll Timofeev, Sergio Drabkin – alle vier sind aus Russland bzw. Weißrussland stammende, klassisch ausgebildete, in Deutschland beheimatete konzertierende und auch unterrichtende Cellisten. Zu Recht hatte sie Giora Feidman immer in den Beifall einbezogen. Feidman ist nicht nur ein Meister seines Instruments, er versteht es auch von Beginn an, das Publikum in seinen Bann zu ziehen durch seine pianissimo beginnenden Klezmer-Paraphrasen, die dann unmerklich in die Musik des 20.Jahrhunderts übergehen. Und Feidman ist ein überaus charmanter Moderator, der durch seine überkonfessionelle Menschlichkeit berührt und dem es problemlos gelingt, etwa bei Leonard Cohens Hallelujah oder bei Sholom Secundas Donna, Donna das Publikum zum Mitsingen zu bringen. Das letzte Stück im offiziellen Programm war das vom Komponisten Béla Kovács dem Meister Giora Feldman gewidmete und zum Hit gewordene Shalom Aleichem Rov Feidman. Das informative Programmheft sei hier um einen Graz-Bezug ergänzt, der wohl auch Giora Feidman nicht bewusst ist: Der große ungarische Klarinettist und Komponist Béla Kovács war von 1989 bis zu seiner Emeritierung 2009 ein hochgeschätzter Professor an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Graz. In dieser Zeit – nämlich im Jahre 2004 – schrieb er Shalom aleichem Rov Feidman !
Das begeisterte Publikum erklatschte eine Zugabe: Johannes Brahms Guten Abend, gute Nacht. Es war wahrhaft ein guter, ja ein begeisternder und berührender Abend!
Der Bezug vom 85-jährigen Gioria Feidman zum zweiten hier zu besprechenden Styriarte-Konzert am 3.Juli ist leicht herzustellen, sagte doch Giora Feidman, dass alle Musik von der Stimme ausgehe:
Unter dem Titel Il castrato erklang Musik von Georg Friedrich Händel und Christoph Willibald Gluck. Hier war der umjubelte Mittelpunkt der venezulanische, erst 29 Jahre alte Sopranist Samuel Mariño. Im Programmheft liest man : Wenn Samuel Mariño die höchsten Höhen seines glockenhellen Soprans erklimmt, traut man als Hörer kaum seinen Ohren. Der Sänger aus Venezuela, der nie in den Stimmbruch kam, singt mit einer nicht mutierten, glasklaren Sopranstimme. Damit ist er den Kastraten des 18. Jahrhunderts erstaunlich nahe und kann sich Ausflüge in hohe Lagen erlauben, von denen gewöhnliche Countertenöre nur träumen können.
Also auch hier steht eine phänomenale Ausnahmeerscheinung im Zentrum des Programms und auch hier ist der Ausgangspunkt eine aktuelle, im Jahre 2019 eingespielte CD: Care Pupille . Dirigent auf der CD so wie beim Styriarte Konzert ist Michael Hofstetter – in Graz wohlbekannt und geschätzt. Auf der CD spielt das Händelfestspielorchester Halle, im Konzert das Styriarte Festspielorchester, eine künstlerisch und pädagogisch kluge Formation. An den ersten Pulten sitzen erfahrene Persönlichkeiten der internationalen Barockszene, von denen die Grazer Stammbesetzung profitiert. Die Qualität der ersten Pulte fällt dann etwa bei Händels Concerto grosso; op.6 Nr.1 und bei Glucks Sinfonia zu Antigono sehr positiv auf. Ein instrumentaler Höhepunkt ist sicher das Oboen-Solo in Händels Quella fiamma, einem Koloraturen-Glanzstück aus Arminio – da liefern sich Solostimme und Solooboe geradezu ein „Duell“ in bester Primadonnenmanier.
Aber trotz aller erfreulichen Instrumentalleistungen bleibt ganz einfach das Zentrum der Aufmerksamkeit der male soprano (so nennt er sich selbst) des Solisten Samuel Mariño. Bei den Händelarien dominierte noch die spielerische Freude an den Koloraturen und an den beeindruckenden Spitzentönen. Mir persönlich fehlten da ein wenig die variierenden Klangfarben und eine vertiefte Gestaltung der Bühnenfiguren. Das änderte sich bei Gluck schlagartig. In Rezitativ und Arie der Berenice aus Antigono gestaltete Samuel Mariño den Notentext ungeheuer intensiv. Plötzlich erlebte man dramatisches Musiktheater – das Publikum hielt geradezu den Atem an und der jugendliche Solist schien am Ende selbst betroffen und merklich berührt vom Schicksal der verzweifelten Berenice. In dieser Interpretation erstand selbst auf dem Konzertpodium eine Bühnenfigur plastisch vor uns – großartig! Der außergewöhnliche Stimmklang des männlichen Soprans ist schwer zu beschreiben – eine zarte, nicht allzu große Stimme, die im piano durchaus warm klingen kann und die in den dramatischen Spitzentönen diamantene Schärfe gewinnt. Am besten ist wohl, wenn sich unsere Leserinnen und Leser selbst ein akustisches und optisches Bild machen – hier also zwei links: der Trailer zur oben erwähnten CD und der Teaser mit Probenausschnitten.
Am Ende gab es begeisterten Jubel, Bravo-Rufe und Getrampel – und so gab es noch eine Zugabe: die wunderbar-zarte Arie Care selve aus Händels Atalanta, ein Stück, das auch viele bekannte weibliche Sopranistinnen im Repertoire hatten und haben (etwa Kiri Te Kanawa, Renée Fleming, Leontyne Price, Kathleen Battle). Man findet damit sogar Luciano Pavarotti im Netz! Samuel Mariño gestaltete den Ohrwurm, der sich auch auf seiner oben erwähnten CD findet, mit der gebührenden Zartheit und Delikatesse – ebenso delikat begleitet von der Continuo-Gruppe des Orchesters. Neuerlicher großer Jubel – aber es gab keine weitere Zugabe, musste doch das Programm eine halbe Stunde nochmals der nächsten Publikumsgruppe präsentiert werden.
Hermann Becke, 4,7.2021
Fotos: styriarte, © Nikola Milatovic