Oper | Musik: Missy Mazzoli | Libretto: Royce Vavrek, nach dem gleichnamigen Film von Lars von Trier | Uraufführung: 22.09.2016 in Philadelphia
Das kommt wahrlich selten vor, dass man nach der Aufführung einer Oper eines zeitgenössischen Komponisten/einer zeitgenössischen Komponistin denkt: WOW, das möchte ich gerne wieder sehen/hören. Meistens legt man ja „moderne“ Werke mit der Kennzeichnung „interessant“ ad acta und nur ganz wenige Opern aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben es wirklich ins erweiterte Standardrepertoire geschafft. Doch anlässlich der Musiktheater-Saisoneröffnung in St.Gallen hat sich genau dieses „Wunder“ eingestellt. Die Oper BREAKING THE WAVES der amerikanischen Komponistin Missy Mazzoli gehört definitiv ins erweiterte Standardrepertoire, denn sie ist weit mehr als bloss „interessant“: Eine packende, vorwärtsdrängende Handlung, angereichert mit einer wunderbaren, atmosphärisch dichten Musik, Kantilenen, die man auch als solche bezeichnen kann (und nicht wie so häufig im zeitgenössischen Musiktheater einfach übermässige Intervalle, welche hysterisch herausgebrüllt werden müssen). machen dieses Werk zu einem grossartigen Musiktheater-Ereignis. Missy Mazzoli scheut sich zum Glück nicht, die traditionellen Formen der Oper zu benutzen, die Hauptfigur (Bess) hat eine regelrechte Auftrittsarie (His name is Jan), im weiteren Verlauf erklingen Duette, Quartette (Concertati), düstere Männerchöre über die sich Bess‘ Stimme mit wunderbarer Strahlkraft schwingt. Die Partitur von Missy Mazzoli ist für ein relativ kleines Orchester geschrieben, sehr luzide instrumentiert, kann aber auch Kraft entfalten. Tonale Zentren sind da (sehr wichtig für die Zuhörer), damit man den Gesangslinien aufmerksam folgt. Im zweiten Teil, wo die Handlung komplexer wird und in unglaubliche psychische Abgründe vordringt, wird die Musik explorativer, aus (stets zurückhaltend eingesetzten) Klangballungen und dissonanten Reibungen lösen sich fragile Einzelstimmen der Instrumente in zarten Verästelungen auf, untermalen die seelischen Turbulenzen der Protagonisten. Um diese dramatischen Verläufe glaubwürdig darzustellen, braucht es ein starkes Ensemble – und genau über dieses verfügt das Theater St.Gallen, welches mit dieser Produktion in die erste Spielzeit unter dem neuen Operndirektor Jan Henric Bogen startet. Vuvu Mpofu ist eine durch und durch berührende Bess, spielt mit grandioser Intensität diese junge Frau in der engen Dorfgemeinschaft auf der Isle of Skye, welche in ihrem Streben nach (auch sexuellem) Glück zwischen Glauben und Naivität aufgerieben, ja regelrecht zermalmt wird.
Frau Mpofu glänzt mit einer makellosen, wunderbar leuchtenden, lichten Sopranstimme, die sich mühelos über die düstern, bigotten Gesänge der verbohrten Calvinisten (Männer!) schwingen kann. Herzzereissend ihr Tod mit dem abbrechenden Aufschrei „Mrs.Jan“ auf den Lippen. Ihr Angebeteter ist der norwegische Arbeiter Jan, der kurz nach der Hochzeit bei einem Unfall auf einer Ölplattform eine Querschnittslähmung erleidet und dadurch natürlich auch seine Sexualkraft verliert. Robin Adams gestaltet diese Rolle zuerst mit machohaftem, aber durchaus sympathischem, humorigem Sex Appeal. Erschütternd dann seine verständliche Wandlung nach dem Unfall: suizidgefährdet, seine Bess mit unmöglichen Forderungen konfrontierend (Sex mit anderen Männern haben und ihm davon berichten müssen). Mit markantem, sicher geführten Bariton druchschreitet Robin Adams die emotionalen Zustände dieses Charakters, überzeugt sowohl in den durchaus vorhandenen heiteren Episoden des ersten Aktes, als auch in seinen Qualen im zweiten und dritten Akt. Berührend gestaltet er den Abschied am Grab von Bess, welche bei einer Vergewaltigung tödliche Verletzungen erlitten hatte, während er (durch ihre Liebe, die ihn am Leben erhalten hatte) den Weg der Genesung beschreiten konnte. Bess ist in ihrer Dorfgemeinschaft nicht nur von engstirnigen, strenggläubigen, bigotten und frauenverachtenden Chauvinisten umgeben, welch ihr unter der Anführung des Council man (David Maze) das Leben schwer machen. Nein, da ist auch noch ihre Schwägerin Dodo, welch in schwierigen Situationen zu ihr hält. Jennifer Panara singt diese dankabare Partie mit warm und einnehmend timbriertem Mezzosopran. Bess‘ Mutter und Dodos Schwiegermutter ist eine verhärmte Frau (sie hat ihren Sohn, Bess‘ Bruder und Dodos Ehemann, verloren, Bess hat wegen des frühen Todes ihres Bruders satationäre Behandlung benötigt). Immer wieder droht sie Bess, sie erneut ins Sanatorium einweisen zu lassen, da sie die unbedingte Liebe Bess‘ zu ihrem Jan nicht nachvollziehen kann. Missy Mazzoli hat diese Figur musikalisch sehr genau charakterisiert und Claude Eichenberger singt sie mit der gebotenen grossen, kalten Stimme mit wirkungsvollem, eingedunkeltem Klang. Christopher Sokolowski als mit jugendlich-apartem Tenor singender Dr.Richardson widersetzt sich zwar den Annäherungsversuchen von Bess, welche (um Jans Wünschen Folge zu leisten) mit ihm schlafen will. Doch eigentlich ist auch er ein guter Typ. Sehr sympathisch kommt der Bassbariton Justin Hopkins als Jans Kumpel Terry rüber, der mit wendigem Bass sowohl die humorigen als auch empathischen Momente treffend umsetzt. Kristján Jóhannesson als sadistischer Matrose und Cristian Joita als junger Matrose vervollständigen das exzellente Ensemble adäquat. Aus dem Graben sorgt das wunderbar transparent aufspielende Sinfonieorchester St.Gallen unter der Leitung von Modestas Pitrenas für die packende lautmalerische Dichte mit der Umsetzung der genialen Partitur von Missy Mazzoli.
Der neue Operndirektor hat seine erste Spielzeit unter das Motto „herstory“ gestellt, Geschichten von und über Frauen(schicksale), und aus dem Blickwinkel von Frauen erzählt. So überliess er die Inszenierung dieser Oper folgerichtig einer Frau, nämlich Melly Still. Sie erzählt die tragische Handlung sehr geradlinig, realistisch und stimmig. Auf der sparsam ausgestatteten Bühne dominiert eine rote brittische Telefonzelle (die Handlung spielt in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts), aus welcher Bess ihre Gespräche mit Gott hält (Einsatz einer E-Gitarre), in die sie sich flüchtet, in der sie aber auch ihren ersten (ihr aufgezwungenen Seitensprung) vollführt. Des weiteren genügen ein Drillbohrer auf der Ölplattform, einige Stühle für die Kirche und das Hochzeitsfest (mit Glitzervorhang), ein Krankenbett, einige medizinische Apparaturen für die Intensivstation (Ausstattung: Ana Inés Jabares-Pita). So sind die schnellen, pausenlosen Szenewechsel, welche die filmische Vorlage nahelegt (das Meisterwerk von Lars von Trier), problemlos ermöglicht. Auf der rückwärtigen Leinwand sind stimmungsvolle, kunstvoll stilisierte Impressionen von Wellen und Tropfen zu sehen, aber auch bedrohliche Schattenspiele (Lichtdesign: Malcolm Rippath) Die Sexszenen werden mit der gebotenen Dezenz dargestellt, durchaus zur Sache gehend, aber stets das rein Voyeuristische und Pornographische vermeidend. Dank der herausragenden Sängerdarsteller“innen und der genauen Personenführung durch Melly Still entwickelt sich ein Drama mit veristischem Touch. Melly Still hat zusätzlich drei Tänzerinnen eingesetzt, die quasi den Frauenanteil auf der Bühne erhöhen sollen, die Handlung pantomimisch begleiten und (wie der Chor in griechischen Dramen der Antike) kommentieren sollen. Diese drei Tänzerinnen schieben auch Bühnenelemente herum (Telefonzelle, Krankenbett), spannen Seile, Kabel, medizinische Schläuche und Tücher, in denen sich Bess auch mal verfängt. Ganz zu überzeugen vermag das alles nicht (irgendwie wirkt das zu aufgesetzt und zu unbeholfen im ganzen Realismus), manchmal wähnt man sich fast in der Nornenszene in Wagners Götterdämmerung. Aber vielleicht ist die Brücke zu Wagner nicht eimal von der Hand zu weisen, denn mit der Bess haben die Komponistin Missy Mazzoli und der Librettist Royce Vavrek (beide waren an dieser Erstaufführung auf dem europäischen Kontinent in St.Gallen anwesend) eine Frauenfigur geschaffen, die sich durchaus in die Reihe der sich für die Männer bis zum Tod aufopfernden, tragischen Frauengestalten auf der Opernbühne einreihen darf.
Am Ende grosser, verdienter Jubel des Premierenpublikums für alle Beteiligten und die Erkenntnis, dass angelsächsische Komponisten uns durchaus einen Weg des zeitgenössischen Musiktheaters aufzeigen können, der in Kontinentaleuropa durch die Folgen und Zwänge der seriellen Musik (vor allem der Darmstädter-Schule) seit 70 Jahren nur schwer in die Gänge zu kommen scheint.
Fazit: HINGEHEN und sich überraschen und berühren lassen! Wenn zur Erlösung von Bess aus dem iridischen Tal der Tränen dann diese „fucking churchbells“, welche sich Jan bei der Hochzeit gewünscht hatte, erklingen, bleibt kaum ein Auge trocken. So muss Oper!
Kaspar Sannemann, 23.9.2021
Copyright aller Bilder: Edyta Dufaj, mit freundlicher Genehmigung Theater St.Gallen