Zürich, Konzert: „Tonhalle Orchester“, Simone Young

Dass Richard Strauss kein Kostverächter war, wenn es um orchestrale Maßlosigkeit ging, ist allgemein bekannt. Dass ein zeitgenössischer Komponist ebenfalls mit großer orchestraler Kelle anrichtet, ist hingegen nicht selbstverständlich. Allerdings macht der Amerikaner Bryce Dessner das ganz anders als Strauss. In Dessners Komposition St. Caroly by the Sea, welche gestern Abend in der Tonhalle Zürich als Schweizer Erstaufführung erklang, entwickelt sich ein sorgsam aufgebautes, klanglich wunderbar ausdifferenziertes Crescendo aus einer zum Zerreißen gespannten atmosphärischen Dichte von tremolierendem Streicher heraus; aparte, überraschende Töne und Melodiefragmente steuern die beiden E-Gitarren bei, gespielt vom Komponisten selbst und von David Chalmin. Dazwischen verströmt das Solocello warme Gesanglichkeit und unterstreicht den wunderbaren Mischklang, welcher Dessner in seiner bezwingenden Musik geglückt ist. Die Ostinati der Streicherfiguren steigern sich Bolero-artig mit Unterstützung des Schlagwerks, bevor das erneute Versinken in den Tremoli der Streicher einsetzt und die E-Gitarren nun selbstbewusster den Lead übernehmen und eine Musik zum Abschluss bringen, die man sich gerne wieder anhören würde. Das kommt bei zeitgenössischen Kompositionen nicht allzu häufig vor, aber ich habe es schon öfters erwähnt, dass die Komponisten aus dem angelsächsischen und lateinamerikanischen Raum weniger Zurückhaltung und falsche Scham als die Kontinentaleuropäer an den Tag legen, um auch mal gefällig zu sein. Jedenfalls war es schon ein besonderes Erlebnis, den Komponisten selbst an der E-Gitarre auf dem Podium erleben zu dürfen, neben seinem Komponistenkollegen und E-Gitarristen David Chalmin – er komponierte u.a. den Soundtrack zum Madonna-Kurzfilm Her Story und ein Werk für die Labèque-Schwestern. Das Tonhalle-Orchester Zürich unter der engagierten Leitung von Simone Young, David Chalmin und der Komponist Bryce Dessner konnten sich des dankbaren Applauses des Publikums sicher sein. Mit Spannung und Vorfreude darf man weiteren im Verlauf der Saison präsentierten Werken des Creativ-Chair-Inhabers Bryce Dessner entgegenblicken.

(c) Kaspar Sannemann

Bei Richard Strauss‘ Tondichtung Also Sprach Zarathustra nach Nietzsche muss man ebenso wenig wie bei Dessners Werk – angeregt durch Kerouac -die literarische Inspirationsquelle kennen, um die Musik zu empfinden. Anders als Dessner legte Strauss von Anfang an volle Pulle los: Der berühmte Sonnenaufgang ging in die Musikgeschichte ein und ließ gestern Abend unter der Leitung von Simone Young den goldenen Saal der Tonhalle noch eine Spur goldener erstrahlen. Strauss schrammt im weiteren Verlauf seiner Tondichtung manchmal oft nah am sentimentalen Kitsch vorbei, aber das ist alles so grandios orchestriert und vom Tonhalle-Orchester so bezwingend und in Bann ziehend umgesetzt und von Simone Young mit bestechender Emphase aufgebaut, dass man sich der beglückenden Wirkung nicht entziehen kann. Ganz wunderbare Soli der Stimmführer betten sich mit feinfühliger Transparenz gespielt in den berauschenden Gesamtklang ein, zarte Melodien kristallisieren sich heraus. Walzerhafte Passagen, die schon im Silberklang der Violinen den Rosenkavalier heraufschimmern lassen, münden in aufschäumenden Jubel des Orchestertuttis, das wird streckenweise fast chaotisch-lärmig, bevor das Werk mit dem beseligenden Gesang von zwei ersten und zwei zweiten Violinen, untermalt von der Flöte, ganz still verklingt und nur die die grummelnden Cs der Kontrabässe eine Zwiespältigkeit ins sanft entschwebenden H-Dur streuen.

Als ruhevoller Auftakt in den Klangrausch des Abends diente Igor Strawinskys neoklassizistische Komposition Apollon Musagete. Dieses nur für Streichorchester konzipierte Werk, mit dem Strawinsky dem Lärm und den Problemen der Gegenwart der 20er Jahre die Schönheit der Antike entgegensetzen wollte, hat etwas faszinierend Beruhigendes, die punktierten, sanften Bewegungen und das ebenmäßig Tänzerische bewirken einen friedvollen Klangfluss, der einen von den Aufregungen und den Spannungen des Alltags loslöst – ein wunderbar gewählter Konzertbeginn. Simone Young und die Streichergruppe des Tonhalle-Orchesters Zürich arbeiteten die kunstvolle Polyphonie dieser ursprünglich als Ballettmusik konzipierten Komposition mit Akkuratesse und tröstlichem Klang heraus, tauchten das alles in ein mildes klangliches Licht. Auch wenn der Eskapismus in die Antike keine unmittelbaren Lösungen für die Probleme der Gegenwart bringen mag, ein ruhiges, besinnliches Innehalten und Verweilen in der Schönheit könnte ein Reflektieren zumindest begünstigen!

Kaspar Sannemann 27. November 2023


Konzert
des Tonhalle Orchesters
Zürich

25. November 2023

Dirigat: Simone Young