Vorstellung am 13.10.2018
Mit dem Begriff „Gesamtkunstwerk“ sollte man nicht allzu verschwenderisch umgehen – für den neuen Ballettabend WINTERREISE von Christian Spuck allerdings ist er mehr als angebracht. Es findet (ganz ähnlich wie in seiner Interpretation von MESSA DA REQUIEM vor zwei Jahren) eine Verschmelzung der Künste statt, die ihresgleichen sucht. Da trifft Wilhelm Müllers feinfühlige Lyrik auf Schuberts tief empfundene Melodik, da legt Hans Zender mit seiner „komponierten Interpretation“ eine zusätzliche, höchst intensiv zum Nachfühlen anregende Schicht darüber. Da interpretiert der Tenor Thomas Erlank Schuberts/Zenders Lieder mit einem herrlich bronzenen Timbre und berührender Gestaltungskraft – und Christian Spuck schürft mit seiner sowohl poetischen als auch dramatischen Choreographie noch tiefer in der verwundeten Seele, regt den Betrachter, die Betrachterin zu freien, ganz persönlichen Assoziationen an. Dies schafft er in einem phänomenal die Atmosphäre der Komposition spiegelnden Bühnenraum von Rufus Didwiszus, in subtiles Licht getaucht von Martin Gebhardt, und mit den so schlicht aber überaus sorgfältig und stimmig gearbeiteten Kostümen von Emma Ryott – und natürlich mit den InterpretInnen auf der Bühne und im hochgefahrenen Graben.
Spuck hat dabei geschickt einen Weg gewählt, der weg vom Narrativen führt, also weder Musik noch Text verdoppelt, sondern mit bewegten Bildern Freiräume für eigenes Empfinden schafft, und dabei doch die Grundstimmungen der Komposition Schuberts und der komponierten Interpretation Zenders beibehält, die da sind: Trauer, Schmerz, Verzweiflung, Todessehnsucht, Selbstmitleid, Kälte, Erstarrung, Vergehen. Dazu steht ihm ein überaus reichhaltiges Bewegungsvokabular zur Verfügung, Spuck findet immer die Mittel, eine Stimmung zu evozieren, aber all dies , ohne den Zuschauer zu gängeln. Das ist ungeheure einfallsreich, virtuos gemacht und mit phänomenaler Präzision vom Ballett Zürich ausgeführt. Abgehackte Härte und Sanftheit, abgewinkelte Arme und Füsse, dann wieder weich fliessende Formen und Bewegungen, choreografierte Stille und Reflexion – traumhaft und albtraumhaft getanzt. Natürlich sind herausragende Einzelleistungen zu sehen in den wenigen solistischen Aufgaben, in den häufigeren Pas de deux, den wunderschönen Paarformationen – doch insgesamt ist Spuck eine Choreografie gelungen, in der jedes Mitglied der Compagnie wichtig ist, oft sind sie alle mit- oder nacheinander auf der Bühne, gestalten fliessende Übergänge zwischen den 24 Liedern. Im Interview im Programmheft wollte Christian Spuck nicht verraten, welches sein liebstes Lied aus Schuberts Zyklus ist. Darüber will ich auch gar nicht spekulieren, sondern nur verraten, an welcher Stelle ich persönlich am meisten berührt war, nämlich bei Nr. 20 (Der Wegweiser).
Emma Ryott schuf ganz wunderbare Kostüme in Schwarz- und Grautönen, feine Corsettagen, stilisierte Biedermeiermäntel. Erwähnenswert auch die fein gearbeiteten Schubert-Hüte und die Kopfputze aus Reisig. Am Ende, wenn die ganze Compagnie mit den schwarzen Krähen hochfährt, sind die TänzerInnen und Tänzer geschlechtslos, nackt (in fleischfarbener Unterwäsche) und auch blind (Augenbinden) – ein weiteres starkes Tableau.
Der Bühnenraum von Rufus Didwiszus wirkte auf den ersten Blick wie ein (weiterer) schmuckloser Bunker mit Leuchtröhren. Doch wenn man genauer hinschaute, entdeckte man auf den Wänden Bäume und Wege im Nebel, ganz zart, kaum sichtbar, eine graue Landschaft, die präzise zur Stimmung der WINTERREISE passte. Die Leuchtröhren verströmten natürlich meist kaltes Licht, doch war es nie zu scharf oder zu grell, die Röhren liessen sich auch individuell hoch- und niederfahren, was zusätzlich zur stimmigen Inszenierung erheblich beitrug. Ansonsten war die Bühne kahl, bot den Tänzerinnen und Tänzern des Balletts Zürich viel Raum. Durch die Versenkung und eine leicht vorstehende Wand erlangte der Raum zusätzliche Kontur. Unaufdringlich auch das Rieseln des Schnees oder die raffinierten Schneegestöber, welche aus den Armen der Tänzer stoben.
Die Philharmonia Zürich war mit doppeltem Streichsextett, vierfachen Holzbläsern, je zwei Hörnern, Trompeten und Posaunen, Schlagzeug, zwei Harfen, Gitarre und Akkordeons besetzt. Unter der Leitung von Emilio Pomàrico erklang Zenders Partitur mit all ihrer geschliffenen Instrumentationskunst und feinfühligen Klangmalerei.
Mauro Peter hätte eigentlich die ersten Vorstellungen der WINTERREISE singen sollen, doch wurde er von einem viralen Infekt befallen. Eingesprungen ist der junge Thomas Erlank, Mitglied des IOS. Er hatte die Proben mitgemacht, war auch für zwei Vorstellungen im November und Dezember vorgesehen gewesen. Nun wurde sein Debüt also vorgezogen – und Thomas Erlank ersang sich einen wohlverdienten Triumph. Welch wunderbare Stimme, ein kerniger, bronzefarbener und in der Höhe ungemein weich und sanft intonierender Tenor, ein Timbre zum Niederknien! Fantastisch meisterte er die von Zender gewollten Übergänge von der ausdrucksstarken Sprech- zur Singstimme und wieder zurück, wirkte auch an den wenigen elektronisch verstärkten Stellen bezwingend und bewältigte versiert einige kleine textliche Hänger gegen Ende (er sang ohne Noten!). Zu Beginn begab er sich von der Bühne (zu den von Zender so unheimlich gespenstisch komponierten „Schritten“) in den hochgefahrenen Graben, verweilte dort, wechselte mal auf die andere Seite. Mehr brauchte es nicht, da Spuck nicht die Intention verfolgte, die WINTERREISE am Schicksal des Einzelnen aufzuhängen, sondern eine allgemein gültige Stimmung evozieren wollte (deshalb wohl auch der Antilopenkopf, der einmal einem Tänzer auf den Rücken geschnallt war).
Ja, es war ein aufwühlender, intensiver Abend, ein Abend der lange nachwirken wird und den man gerade wegen seiner unheimlichen Vielschichtigkeit mehrmals erleben möchte.
Am Ende (zum Leiermann) gab es doch noch einen kleinen Hoffnungsschimmer: Vielleicht gibt es auch nach dem Verlust der/des Liebsten einen Weg in eine bessere Welt – einen Weg, den der Sänger einschlug, indem er der Tänzerin Yen Han blind vertrauend folgte, ins ewige Dunkel oder in neues Licht?
Fotos (c) Gregory Batardon