München: „Les Troyens“

Vorstellung am 06.07.2022

"… zwei Frauengestalten als Weltgedächtnis für das Leiden der Menschheit", so fasst Ulrich Schreiber in seinem OPERNFÜHRER FÜR FORTGESCHRITTENE Berlioz‘ monumentale Oper zusammen. Diese beiden Frauen sind die Seherin Cassandre im ersten Teil und die karthagische Königin Didon im zweiten Teil der Oper. Beide müssen sich in einer Männerwelt behaupten, beiden wird die Liebe und Unterstützung der Männer versagt werden. Berlioz hat musikalisch zwei grandiose und dankbare Partien für die beiden komponiert und die Interpretationen sowohl von Jennifer Holloway als Cassandre als auch von Ekaterina Semenchuk als Didon waren tief beeindruckend – vor allem mit geschlossenen Augen. Denn Christophe Honoré gelang es mit seiner Regiearbeit nicht, dem Publikum die Grösse und das Leiden der beiden Frauen näher zu bringen. Zugegeben, Berlioz‘ Oper ist für uns heutzutage nicht ganz einfach zu verstehen, zu episodenhaft ist die Anlage, zu verflogen ist die klassische Bildung aus dem Bildungskanon. Für die Bühne hat Katrin Lea Tag eigentlich ein kluges und stimmiges Konzept gewählt: Einen zerstörten Marmorboden und rauchgeschwärzte Betonwände für das kriegsversehrte Troja, eine eiskalte Beton-Bäderarchitektur für das unter Didon blühende Karthago.

Doch Honoré gelang es nur ungenügend, diese Räume mit einleuchtender theatralischer Dramatik zu füllen. Dagegen herrschte viel Statik auf der Bühne, wenig spannungsgeladene Interaktion. Dem Chor verweigerte er praktisch komplett das Agieren, er findet die Chorpartien seien "infantil" (Lobpreisungen der Herrschenden, banale Kommentare). Deshalb lässt er den Chor einfach in Abendgarderobe auftreten und benennt diesen im Programmheft als "Repräsentanten der Zuschauer:innen auf der Bühne". Mit Verlaub: Ich fühlte mich nicht repräsentiert. Für mich kommt diese Vorgehen eher einer Kapitulation vor den inszenatorischen Herausforderungen gleich. Die umfangreichen Ballettmusiken des vierten Aktes werden selbstredend nicht als Ballette gezeigt (kann man verstehen). Honoré greift (als Drehbuchautor und erfolgreicher Filmregisseur nachvollziehbar) zu filmische Mitteln, um diese ausladenden Ballettszenen zu bebildern. Zwei Leinwände werden auf die Bühne geschoben, darauf werden schwule Softpornos projiziert, im Stil eines Jean Daniel Cadinot, der seine "Garçons" Hardcore Pornos oft in den Ländern rund ums Mittelmeer drehte. Weitere Parallen zu LES TROYENS erschlossen sich weder mir noch meinen Sitznachbarn, völlig sinnbefreit das Ganze, aber eine gezielte Provokation für einen Teil des Festspielpublikums. Die Bayerische Staatsoper kam deshalb nicht umhin, die Vorstellungen wegen "expliziter Szenen" erst für Zuschauer:innen ab 18 Jahren zu empfehlen.

Trotzdem verliessen nicht wenige Besucher die Vorstellung in der darauffolgenden Pause. Bereits im dritten Akt kam es zu kleineren Misfallensbekundungen, da sich in Didons Bäderlandschaft ein gutes Halbdutzend nackter Jünglinge splitternackt in selbstverliebten Posen räkelte. Warum umgibt sich Didon, die ihrem verstorbenen Gemahl Keuschheit über den Tod hinaus geschworen hatte, mit schwulen Jungs? Um nicht in fleischliche Versuchung zu geraten? Fragen über Fragen, auf die man weder anlässlich der Einführung durch die Dramaturgin noch beim gewissenhaften Studium des schön gemachten Programmbuchs (die Fotoarbeiten mit dem Thema MITTELMEER vom Spanier Txema Salvans und französisch – algerischen Fotografin Zineb Sedira sind großartig) Antworten kriegte. Die kriegerischen Handlungen (Vergewaltigungen) der griechischen Soldaten wurden auf kleinen Fernsehern gezeigt (man bekam davon durch die Entfernung zur Bühne wenig mit). Später traten die Griechen dann in billigem Gay- Fetisch-Outfit auf, Harness, Reiterstiefel und weisse Strumpfhosen und machten sich über die Frauen Trojas her, hatten aber nicht mit dem Widerstand Cassandres und der Damen gerechnet. Das trojanische Pferd bestand übrigens bloss aus gestylten Buchstaben aus Leuchtröhren … .

Das Plädoyer für Berlioz‘ selten aufgeführte Monumentaloper kam also nicht von der Bühne, dafür mit überwältigender Vehemenz aus dem Graben. Die wunderbar differenzierten Klänge, welche Daniele Rustioni dem Bayerischen Staatsorchester zu entlocken verstand, waren von farbenreicher Intensität und bewegender Dramatik erfüllt. Stark besetzt waren neben den bereits erwähnten Jennifer Holloway und Ekaterina Semenchuk auch alle anderen Gesangspartien. Besonderen Eindruck machte der stimmlich auf dem Höhepunkt seiner großartig aufgebauten Karriere stehende Gregory Kunde (er sprang kurzfristig für Brandon Jovanovich ein und hatte am Abend zuvor einen beeindruckenden Otello hier in der Staatsoper gesungen). Heldisch, sauber intonierend und unangestrengt stand er die gewaltige Partie durch. Ein wahrer Held! Wunderschön ließ Stéphane Degout seine samtene Stimme als Chorèbe erklingen und Lindsey Ammann begeisterte mit ihrem ausdrucksstarken Mezzosopran als Didons Schwester Anna. Den schönen Arien des Iopas und des Hylas wurden Martin Mitterutzner bzw Jonas Hacker mehr als gerecht. Der Bayerische Staatsopernchor, von Stellario Fagone einstudiert, verlieh den Chortableaux wunderbar stimmigen musikalischen Reiz.

Trotz aller szenischer Vorbehalte meinerseits lohnt sich die Auseinandersetzung mit LES TROYENS immer wieder und in München wird man mit grandioser musikalischer Umsetzung beglückt!

Kaspar Sannemann, 24.7.22

Bilder (c) Staatsoper / W. Hösel