Bayreuth: Festival Junger Künstler: Vera Maria Bitter und Elitsa Desseva

Steingraeber, 9.8.2021

Vergessen wir einmal einen Augenblick die Werbelyrik, dergemäß die Sängerin „neben zahlreichen Opernengagements ein beeindruckendes Repertoire vorzuweisen hat“ und „diverse solistische Konzertengagements im In- und Ausland vorweisen“ kann. Ihr Debüt bei den Bregenzer Festspielen erlebte sie, so lesen wir, 2019 bei den Bregenzer Festspielen, konkret: sie sang dort die Garcias in Massenets Don Quijote. Eine Rolle bei einem bedeutenden Opernfestival, aber (immerhin) eine Wurzen, wie man so sagt. Ausbildung an den Musikhochschulen Weimar und Salzburg: das ist die Basis; die Tatsache, dass sie Stipendiatin eines Wagner-Verbandes ist, in diesem Fall dem Bayreuther (der am Konzertabend durch Abwesenheit glänzt, was nicht gegen die Sängerin gerichtet ist, denn man wundert sich, kennt man diesen Verband etwas genauer, durchaus nicht), heißt einiges, aber nicht alles.

Warum ich diese eher einschränkenden und nicht gerade höflichen Bemerkungen an den Beginn einer Konzertkritik setze? Weil die junge Sängerin, die zusammen mit ihrer höchst kompetenten Begleiterin, Mitspielerin und Mitinterpretin Elitsa Desseva in Steingraebers Kammermusiksaal mit dem Programm Von ewiger Liebe ihr Bayreuth-Debüt erlebte, die allzu werbenden Worte auf dem Waschzettel des Programms gar nicht nötig hätte. Gewiss: Man und Frau müssen heute im internationalen Konzert der Musiktalente mächtig trommeln, um auf sich aufmerksam zu machen; gute Sängerinnen wie Vera Maria Bitter dürfen auch in der „Musikstadt“ Bayreuth nicht erwarten, in einem ausverkauften Saal zu stehen – dabei hätten die beiden Musikerinnen ihn verdient. Denn schon mit dem Introitus des dreiteiligen Liederabends nehmen sie die Zuhörer gefangen. Im zweiten Teil aber wird, den komplett anderen Liedern angemessen, die Stimme anders klingen, im Schlussteil sich die Sängerin, wollte man es überspitzt und ungerecht auf den vokalen Punkt bringen, endlich völlig eingesungen haben, obwohl die Vermutung, dass hier eine zukünftige „Strauss-Sängerin“ zu hören ist, noch nicht geäußert werden sollte. Denn die durchaus schöne, charaktervolle, stets vorbildlich klar artikulierende Stimme, bei der akkurat jedes Wort – selbst in den hohen Sopranregionen – verständlich bleibt, ist in den ersten vier Schubert-Liedern hell, scheinbar leicht, doch tragend – vergleicht man diese Gesangs-Art mit jener, die sie im längeren Brahms-Zyklus anwendet, klingt Vera Maria Bitters Stimme zunächst konturiert wie ein hauchdünnes Blatt Papier, das durch den Äther fliegt, ihn zart zerschneidet und unsere Ohren erreicht (dies nur als Versuch, die klare Stimme mit einer vielleicht missverständlichen Metapher zu beschreiben). Der Sopran sitzt, er folgt den Intervallsprüngen, den Worten und dem genauen Sinn des zauberhaften Eingangs An Sylvia wie selbstverständlich; der Ambitus der Ausdrucksformen wird mit dem weltlichen Gebet Du bist die Ruh, der erzählenden Romanze und der dramatischen, schon tiefer gelegteren Ballade Der Zwerg ausgezirkelt. „Schubert singt in innerem Bezirk“, wie Dietrich Fischer-Dieskau in Zusammenhang mit Du bist die Ruh einmal sagte. Voilà, man hört es an diesem Abend. Vernimmt man dann die sieben Brahms-Lieder, erweitert sich das Spektrum der Stimme ins eindeutig Dunkle: Von ewiger Liebe op. 43/1 ist ein glänzender, mahlerisch anmutender, ins zweifache Forte ausgreifender Beginn in der Reihe dieser typisch bramsschen, also unlustigen und tiefgründenden Lieder, in denen die Sängerin große Bögen bilden kann (und bildet). Ein alter Traum erfasst mich und führt mich seine Bahn – die Alte Liebe op. 72/1 fasst zusammen, was das Ethos dieser Lieder ausmacht und Vera Maria Bitters Stimme in diesem Teil so vollkommen erfüllt, dass man den Eindruck haben könnte, dass sie im abgeschatteteren Repertoire vielleicht (!) eher zuhause sein könnte als in den alpinen Extase-Landschaften eines Richard Strauss – obwohl auch dessen Lieder gelingen, weil Bitter und Desseva, letztere mit großem, doch für die Nuancen der Singstimme meist aufmerksamem Gestus, den Strauss-Ton harmonischer Leidenschaften, wie gesagt: mit ihren Bögen bezwingend hinbekommen.

Die Frage bleibt nur, warum von den vier Liedern, alle aus dem Zyklus op. 10, drei zu jenen dreien gehören, die in fast jedem Konzert erklingen, in denen Lieder des Liedkomponisten Strauss gesungen werden? Nichts gegen Popularität, der Kritiker hört nicht auf den Rufnamen „Beckmesser“, aber wäre es nicht schöner gewesen, stattdessen ein oder zwei seltenere Strauss-Lieder aufs Programm zu setzen? Die Auswahl ist groß… Dafür gibt es zwei populäre Zugaben, die das Programm in Sicht auf den unsichtbar anwesenden Mahler und Brahms‘ berühmtem Mentor glanzvoll beenden. Mit Schumanns Widmung und Mahlers Ringel, ringel reih‘n! kann man, will man einen stimmlich und stilistisch vielfältigen Liederabend euphorisch abschließen, nichts falsch machen. Starker Beifall, nicht allein aus der üblichen Fankurve.

Frank Piontek, 10.8.2021

Foto: ©Festival Junger Künstler