Würzburg: „Tristan und Isolde“

Vorstellung am 3.6.2012

Momentaufnahme einer Todessehnsucht

Der Vielfalt an Deutungen von Wagners „Tristan und Isolde“ hat Hermann Schneider am Mainfrankentheater Würzburg eine weitere hinzugefügt. Und das auf beachtlichem Niveau. Poetischen Stimmungszauber atmete bereits das bebilderte Vorspiel, in dem ein zuerst einsamer kleiner Lichtpunkt allmählich zum hell leuchtenden Stern wird. Aus den ihn umgebenden kosmischen Gefilden schälen sich immer stärker die Namen von Tristan und Isolde heraus, um dann wieder zu verglühen. Die Liebenden als Zentrum des Weltalls – ein sehr ästhetischer, romantischer Beginn, zu dem sich im Folgenden noch ein überzeugendes geistiges Gedankengebäude gesellt. Der Regisseur legt keinen Wert auf Äußerlichkeiten, sondern legt den Focus ganz auf die innere Handlung. Essentielle Bedeutung kommt bei ihm dem Augenblick zu, in dem Tristan und Isolde den Trank zu sich nehmen. Diesen fasst er in Einklang mit zahlreichen modernen Interpretationen des Werkes nicht als simples Liebeselixier auf, sondern lehnt sich bei seiner Interpretation stark an Thomas Mann an, nach dem das Paar auch Wasser hätte trinken können. Auch für Schneider ist entscheidend, dass die beiden lediglich glauben, sie hätten einen Todestrank getrunken. Sie wollen sterben. Dementsprechend begeben sie sich auf die Schwelle zum Totenreich, auf der sie bis zum Ende wandeln und auf der Liebe und Tod zu Synonymen werden.

Eindrucksvoll präsentiert der Regisseur so eine zwei Aufzüge andauernde Momentaufnahme der Todessehnsucht von Tristan und Isolde und dringt einfühlsam in die innersten Bereiche ihrer Psyche sowie allgemein in die Grenzbereiche menschlicher Existenz vor. Die Zeit scheint still zu stehen. Für die Liebenden wird sie indes zu einer Ewigkeit. Eine am Ende des ersten Aufzuges im Hintergrund erscheinende Spiegelwand reflektiert ihr Innerstes wider und weist ihnen den Zugang in eine bessere Welt – weg vom Totenduft, der den ganzen ersten Aufzug prägt. Tristans Schiff ist ein von Falko Herold – von ihm stammen auch die Kostüme, Videos und Animationen – entworfenes Gespensterschiff, dessen geisterhafte Besatzung aus Zombies und Vampiren eher dem Fliegenden Holländer als einem Ritter aus Kornwall zuzuordnen ist. Ein fahles Schreckgespenst von Seemann, der auch den Hirten gibt, ist der Anführer dieser Spukgesellschaft, die ständig präsent ist und das Paar auf seinem mentalen Weg begleitet. Sie alle scheinen traumatisierte Opfer des vorangegangenen Krieges zwischen Irland und Kornwall zu sein, die den Titelfiguren ein Entkommen aus dem beengten Raum gnadenlos verwehren wollen und sie in eine ausgeprägte Existenzkrise drängen, der sie nichts entgegenzusetzen haben. Ihrem an Schopenhauers Pessimismus gemahnenden Schmerz korrespondieren die lebensbejahenden Mentalitäten des ein Superman-T-Shirt tragenden, glatzköpfigen, schmierigen und äußerst beleibten Kurwenal und der als leger gekleideter moderner Teenager vorgeführten Brangäne, die leiblichen Genüssen alles andere als abgeneigt sind. Sie ziehen sich immer von Tristan und Isolde zurück, wenn diese ihrem Todesverlangen nachhaltig Ausdruck verleihen. Am Ende schließt sich der Kreis: Die ursprüngliche Zeit tritt wieder ein, aber die Umwelt ist jetzt eine andere als im ersten Aufzug.

Andrea Sanguineti am Pult setzte zu Beginn auf einen sehr weichen und fast zaghaften Orchesterklang. Er ließ das Sehnsuchtsmotiv recht delikat und fein in den etwas verhalten genommenen Tristan-Akkord münden. Im Folgenden entfesselten er und das Philharmonischer Orchester Würzburg aber in immer stärkerem Maße einen fulminanten Sturm der Leidenschaften. Rasante, vorwärtsdrängende Tempi wechselten mit langsameren ab, wobei der Dirigent stets auf dynamische Ausgewogenheit und Differenziertheit des glutvollen Klangteppichs achtete. Prachtvoll war, wie er nach imposanten dramatischen Ausbrüchen der verschiedenen Instrumentengruppen die Lautstärke unvermittelt wieder auf ein zartes Piano zurückzuführen und die Spannung noch mehr zu steigern wusste.

Bei den Sängern hatte an diesem Nachmittag des 3. 6. 2012 leider der Krankheitsteufel zugeschlagen. Das brachte es mit sich, dass der ursprünglich für den Tristan vorgesehene Paul McNamara die Rolle nur spielte, während Franco Farina, der einem breiten Publikum durch seine Auftritte in Mailand, New York, London und Zürich ein Begriff sein dürfte, den Part von der Seite aus sang. Den ersten Aufzug ging der über einen solide gestützten Tenor verfügende Sänger noch ziemlich bedächtig und zurückhaltend an, lief aber spätestens ab dem zweiten Aufzug zu großer Form auf und vermochte insbesondere mit Tristans Fieberphantasien im dritten Aufzug nachhaltig zu beeindrucken. Indes waren die Anforderungen an ihn nicht ganz so groß, weil in dieser Produktion neben dem immer wieder schmerzlich anmutenden Tag-und-Nacht-Sprung im zweiten Aufzug auch der erste große delirische Ausbruch des Helden gekürzt wurde, was noch irritierender war.

Leider nahm Farina auch einmal eine hohe Stelle zu stark in der Kopfstimme. Und bei „Wohin nun Tristan scheidet“ sang er bei der Anfangssilbe einen falschen, viel zu hohen Ton. Von ihrer Krankheit weitgehend wieder genesen, wagte sich Anja Eichhorn, die man von ihrer Coburger Turandot her noch in bester Erinnerung hatte, an diesem Nachmittag in der Partie der Isolde wieder auf die Bühne und vermochte dann auch relativ ordentlich abzuschneiden. Ihre gerade überwundene Indisposition machte sich indes insbesondere in der Höhe noch durch einige harte und spitze Töne bemerkbar, bei denen die Sängerin Schwierigkeiten hatte, die Stimme im Körper zu halten. Ganz abgesehen davon ist sie keine Isolde. Dazu fehlt es ihrem hellen, eher jugendlich- als hochdramatischen Sopran an fulminanter Attacke und Durchschlagskraft. Auch die nicht sehr ausgeprägte Tiefe ist noch ausbaufähig. Einen gefälligen, ebenmäßig dahinfließenden und gut gestützten Mezzosopran brachte Karen Leiber für die Brangäne mit.

Und auch Uwe Schenker-Primus vermochte als Kurwenal mit seinem markanten, bestens focussierten und höhensicheren Bariton voll zu überzeugen. Was ebenmäßigen Stimmfluss angeht, reichte der Marke von Johan F. Kirsten nicht ganz an andere Rollenvertreter heran. Indes verfügt er über beachtliches heldisches Bassmaterial, das insbesondere bei den dramatischen Ausbrüchen des Königs und Stellen, an denen er voll aussingen konnte, hervorragend zur Geltung kam. Von Hyeong-Joon Ha s sonor singendem Steuermann hätte man gerne mehr gehört. Lautstark, aber ohne Verankerung seines Tenors im Körper sang Kenneth Beal den Melot. Ausgesprochen flach und dünnstimmig klang auch der den jungen Seemann und den Hirten gebende Joshua Whitener. Solide entledigte sich der von Markus Popp einstudierte Herrenchor im ersten Aufzug seiner nicht sehr umfangreichen Aufgabe.

Ludwig Steinbach
Alle Bilder: Gabriele Koch

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