Barcelona: „Dramma lirico“, Giacomo Puccini

Videos und andere Rätsel

Den 20. Jahrestag seiner Wiederöffnung nach dem verheerenden Brand von 1994 feierte das Gran Teatre de Liceu mit einer Neuproduktion von Puccinis Dramma lirico, das auch 1999 (in der Inszenierung von Nuria Espert) auf dem Programm stand. Diesmal war Franc Aleu von der katalanischen Künstlergruppe La Fura dels Baus am Werk, deren Arbeiten durch ihren futuristischen Zuschnitt bekannt sind. Hier sieht man auf der Drehbühne einen von Carles Berga und dem Regisseur gestalten Arena-artigen Aufbau von faszinierender Architektur mit Treppen, Pyramiden und hochragenden Zacken, welche oft an Fritz Langs Stummfilm Metropolis von 1927 oder an die Oper in der Nussschale in Sydney erinnerte, zuweilen auch Assoziationen an Caspar David Friedrichs Gemälde Das Eismeer (Die gescheiterte Hoffnung) mit seinen zerklüfteten Eisschollen weckte. Auch die Verbindung zu Kulissen in Science-fiction-Filmen stellte sich her, zumal alle Vorgänge von sichtbar installierten Robotern überwacht werden. So imponierend die Bühnengestaltung war, so irritierend wirkten Aleus Videokreationen, welche in ihrer Überfülle und Rätselhaftigkeit den Zuschauer strapazierten, vielfach vom Geschehen ablenkten, zumal sich meist kein Bezug zu diesem herstellen ließ. Mehrmals fand die Form eines Ballons Verwendung – als Augapfel, Globus oder aus Glasscherben zusammengesetzter Kugel. Man sieht flackernde Lichtstreifen, kreisende grafische Elemente, zuckende Blitze, Fontänen, Wasser- und Seifenblasen, von denen die drei Minister wie Embryos umgeben sind, Büsten, welche vom Himmel stürzen und am Boden zerschellen, nackte Frauenkörper, die in der Luft schweben und sich verschlingen. Es waren Effekte und Einfälle ohne Zahl, doch rätselte man fortwährend nach deren Sinn und ihrer Beziehung zum Text.

Die surreale Atmosphäre der Aufführung wird unterstützt von Marco Filibeckc’ Lichtgestaltung, welche den Raum in expressive Farben taucht, und Chu Oroz’ futuristischen Kostümentwürfen. Turandot trägt ein Gewand aus Plastikmaterial und eine gleißende kreisförmige Krone aus digitalen Symbolen. Auch Calafs Kleidung dominiert künstliches Material mit Metallic-Effekten, die des Kaisers wird bestimmt von einem Brustpanzer mit goldenen Schuppen. Gänzlich uniformiert zu sehen ist das Volk in weißen Overalls mit Leuchtelementen am Kopf. Besonders bizarr wirken Polizisten mit einem Smartphone-Aufsatz auf den Schultern und roten Leuchtstäben.

Aleus Personenführung mit den vielfach an der Rampe postierten Protagonisten bewegt sich eher im konventionellen Rahmen. Lediglich am Schluss sorgt der Regisseur für eine Überraschung. Er negiert Liùs Selbstmord und lässt sie in einer Folterkammer mit elektrischen Stromstößen, denen zu Beginn auch der Prinz von Persien erlag, malträtieren. Da Turandot entdeckt eine für sich neue Gefühlswelt, nimmt die Tote in den Arm und küsst sie. Denn Calaf hat ihr statt des im Alfano-Finale vorgesehen Kusses die Krone vom Haupt gerissen, um sich fortan nur noch diesem Machtsymbol zu widmen, welchem offenbar sein ganzes Bestreben galt. Das Volk entkleidet sich und wirft die starren Uniformen ab. Der homoerotische Aspekt der Finallösung fand beim Publikum am 10. 10. 2019 unterschiedliche Aufnahme.

Gefeiert wurden dagegen die Solisten, allen voran die albanische Sopranistin Ermonela Jaho als zartstimmige Liù. Sie berührte mit innigem Gesang, ließ die Töne in ihren Arien delikat und zauberisch aufblühen. Mittellage und Tiefe sind dagegen weniger wirkungsvoll ausgebildet. Im Dirigenten Josep Pons, seit 2012 Director musical des Hauses, hatte sie einen hervorragenden Begleiter, der mit dem Orquestra Simfònica del Gran Teatre del Liceu vor allem die orchestralen Feinheiten, die lyrischen Passagen und impressionistisch flirrenden Momente des Werkes herausarbeitete. Bei Jorge de Leóns Calaf war das weniger angebracht, denn der Tenor gestaltete mit seiner potenten, wuchtigen Stimme die beiden Arien als gewaltige Kraftakte. „Nessun dorma“ schmettert er wie von einer Kanzel herab – bei allem Respekt für sein enormes Material hätte man sich doch einen etwas differenzierten Gesang gewünscht. Auch Iréne Theorin als Titelheldin, deren „In questa reggia“ von Feuerwerkskörpern illustriert wird, setzte vor allem auf die Durchschlagskraft ihrer exponierten Noten, welche scharf wie Messerstiche ertönten und man sich fragte, ob sie damit ihre eigenen Stimmbänder oder die Gehörnerven der Zuschauer verletzen würde. In der unteren Lage hinterließ die Stimme kaum nachhaltigen Eindruck.

Toni Marsol, Francisco Vas (seit 1993 im Ensemble) und Mikeldi Atxalandabaso als die drei Minister in rot-, grün- und blauer Montur wie Eishockey-Spieler sind gesanglich ein solides Trio wie auch Alexander Vinogradov als Timur. Nach seinem Liceu-Debüt in der Spielzeit 1989/90 kehrte Chris Merritt als Altoum mit passend schwächlich-gebrochener Stimme an das Haus zurück. Im goldenen Mantel mit exotisch-weißem Haar sorgte Michael Borth als Mandarin für einen ersten optischen Effekt, ließ aber einen in der Höhe limitierten Bariton hören. Der Cor del Gran Teatre (Conxita Garcia), nicht immer ganz perfekt im Gesang, hat einen besonders attraktiven Auftritt beim nächtlichen Mondchor, wo die gesamte Szene in magisches blaues Licht getaucht ist.

International führende Solisten (Anna Netrebko, Roberto Alagna, Angela Meade, Javier Camarena, Klaus Florian Vogt, Joyce DiDonato, Juan Diego Flórez u. a.) wurden für die weiteren Produktionen verpflichtet, um der Jubiläumsspielzeit den gebührenden Glanz zu verleihen.

Bernd Hoppe 12.10.2019