Berlin: „Dornröschen“

Rokoko-Zauber beim Berliner Staatsballett

Endlich kann das Publikum das Berliner Staatsballett wieder in seinem vollen Glanz erleben. Mit Tschaikowskys Dornröschen wurde eines der schönsten Ballette des klassisch-romantischen Repertoires einstudiert, dessen Schwierigkeitsgrad das Niveau einer Compagnie gnadenlos offenbart. Nach der unvergleichlichen Choreografie von Rudolf Nurejew (noch mit dem Ballett der Berliner Staatsoper) war beim Staatsballett eine dürftige Version von Vladimir Malakhov und danach eine gleichfalls glücklose von Nacho Duato zu sehen. Nun gab es die gute Entscheidung, für eine Neuproduktion die Choreografie der Stuttgarter Tanzlegende Marcia Haydée zu übernehmen. Im März des vergangenen Jahres hatte sie ihre Arbeit (unter Corona-Bedingungen) bereits mit dem Czech National Ballet einstudiert, wovon man sich mittels der Streaming-Übertragung einen Eindruck verschaffen konnte. Die berühmten Nummern der Petipa-Choreografie, wie das Rosen-Adagio oder die Variation Auroras im 1. Akt sowie den Pas de deux am Schluss, hat die Choreografin nicht angetastet. Mit Polina Semionova stand für die Titelrolle eine Interpretin mit jugendlicher (aber nicht kindlicher) Ausstrahlung auf der Bühne der Deutschen Oper, die im Auftritt noch verhalten und im Tempo gebremst wirkte, die Schwierigkeiten der Choreografie zwar meisterte, doch nicht mit der Frische und Spontaneität, die man von ihr kennt. Erst im Verlauf der Premiere am 13. 5. 2022 gewann sie an Souveränität und Ausstrahlung, um am Ende im großen Pas de deux zu ihrer Klasse zu finden. Überraschend wurde der Prinz Désire mit dem Démi-Solisten Alexandre Cagnat besetzt, was ungewöhnlich ist bei dieser anspruchsvollen Rolle. Doch schon der Auftritt mit der Jagdgesellschaft offenbarte sein romantisches Naturell, die sehnsuchtsvolle Aura und die noble Eleganz im Ausdruck. Seine Variationen absolvierte er bravourös und der Semionova war er ein sicherer Partner.

Anspruchsvolle tänzerische Aufgaben hat Haydée den Begleitern der Feen im Prolog (Taras Bilenko, Alexander Bird, Timothy Dutson, Suren Grigorian, Oleg Ligai, Dominic Whitbrook) und den vier Prinzen im 1. Akt (Konstantin Lorenz, Cameron Hunter, Marco Arena, Alexei Orlenco) zugeordnet, was deren Auftritte wirkungsvoller macht. Damit weicht sie – und durchaus mit Gewinn – vom Original ab. Am deutlichsten aber ist die Figur der Carabosse aufgewertet, womit die Haydée schon 1987 in Stuttgart bei ihrer Choreografie für den Startänzer Richard Cragun eine fulminante Rolle geschaffen hatte, die ihm gleichermaßen Bravour wie Charakterzeichnung abverlangte. In Berlin wurde diese Dinu Tamazlacaru anvertraut, der sie zum Mittelpunkt der Aufführung machte. Effektvoll der Auftritt unter Donner und Blitz im Prolog, wirbelnde Sprünge und furiose Drehungen zeugen von seinem tänzerischen Ausnahme-Status. Haydée gewährt der Carabosse sogar noch einen Auftritt bei der Apothéose – der letzte Versuch, die Ereignisse zu ihren Gunsten zu verändern, was von der Fliederfee vereitelt wird. Elisa Carrillo Cabrera gibt sie tänzerisch zuverlässig und mit aristokratischer Eleganz.

Wie zu erwarten war, hat Marcia Haydée auch die bekannten Nummern des Divertissements im letzten Bild von Petipa übernommen. Jeder Ballettfreund will das Duo der Prinzessin Florine mit dem Blauen Vogel im Original sehen. Hier zeigten es Evelina Godunova und Olaf Kollmannsperger mit solidem tänzerischem Vermögen, freilich nicht mit der Biegsamkeit, welche man von legendären Interpretationen kennt. Als Gestiefelter Kater und sein Kätzchen sah man Alexander Abdukarimov und Minori Nakashima gebührend kapriziös und putzig. Gelegentlich ist in Aufführungen auch die Episode mit Rotkäppchen und dem Wolf zu sehen (Alizée Sicre und Oleksandr Shpak), aber fast nie die von Schneewittchen und den sieben Wichteln (Filipa Cavaco und Schülerinnen der Staatlichen Ballettschule Berlin) und erst recht nicht jene von Ali Baba mit den Edelsteinen. Murilo de Oliveira sorgte mit dieser bravourösen Nummer fast für einen Corsaire im Miniformat – glanzvoll assistiert von Danielle Muir als Amethyst, Luciana Voltolini as Saphir, Aya Okumura als Rubin und Iana Balova als Smaragd.

Die Produktion bezieht ihren Reiz auch aus der zauberhaften Ausstattung von Jordi Roig, der eine an Watteau erinnernde Parklandschaft mit Treppenaufgängen und einer Empore erdachte, die von Jacopo Pantani in mediterranes Sonnenlicht getaucht wurde. Bezaubernde, reich verzierte Kostüme mit vielen Details und aus prachtvollen Stoffen ergänzten die zauberhafte Optik.

Einzig das Spiel des Orchesters der Deutschen Oper Berlin unter Leitung von Ido Arad enttäuschte mit vielen Bläsermisstönen und fügte sich nicht in den Glanz dieser Neuproduktion, die am Ende vom Publikum euphorisch bejubelt wurde.

Bernd Hoppe 15.4.22