Berlin: „Romeo und Julia“

Vorstellung am 29. April 2018

Tanz von Kraft und Energie

Eine neue choreografische Version von Prokofjews Romeo und Julia muss sich stets mit den Schöpfungen von John Cranko, Kenneth MacMillan und John Neumeier messen. Auch die Neuproduktion des Staatsballetts Berlin in der Choreografie von Nacho Duato fordert diesen Vergleich heraus. In einigen Aspekten kann sie mit den großen Vorbildern durchaus standhalten. Die Gruppenbilder haben Kraft und Energie, die Kampfszenen Dramatik und Spannung. Das choreografische Vokabular fußt auf der neoklassischen Tradition, auffällig sind die häufig abgewinkelten Unterarme – eine Spezialität des Spaniers. Prüfstein jeder Choreografie zu Prokofjews Klassiker ist die Balkonszene, Duatos Deutung, die 1998 in Madrid zur Premiere kam, hat Schwung und bietet attraktive Schleuderfiguren. Auch der Abschied der Liebenden besitzt emotionale Dichte. Nach der Pause gibt es weniger inspirierte Bilder, wie die kurzen Episoden vor dem Vorhang. Und die akustische Untermalung der Tänze mit Johlen, Händeklatschen und Pfiffen ist ebenso entbehrlich wie der markerschütternde Schrei der Amme beim Anblick der vermeintlich toten Julia (Beatrice Knop mit strenger Aura). Eigene Erfindungen Duatos sind die Harlekine, die sich beim Fest der Capulets unter die Gäste mischen und ein Divertissement aufführen, das personifizierte Gift, das von den beiden Tänzern Alexander Shpak und Dominic Whitbrook dargestellt wird, sowie die schwarzen Fackelträger in der Gruft. Gänzlich missglückt ist das Finale mit dem Doppelselbstmord des Paares, der geradezu sachlich abgehandelt wird und beim Zuschauer keine Empfindungen auszulösen vermag.

Optisch leidet die Produktion unter dem recht ärmlich wirkenden Bühnenbild von Jaffar Chalabi (nach Carles Puyol und Pau Renda) mit einer niedrigen Mauer im Hintergrund und einer holzgetäfelten Bühneneinfassung mit Fenster- und Türausschnitten. Anfangs schwebt ein seidener Plafond mit dem Wappen von Verona über dem Geschehen, der die insgesamt zu dunkel ausgeleuchtete Szene (Brad Fields) erhellt, bald aber als Vorhang herabfällt. In der extrem dunklen Gruft werden die schwarzen Fahnenträger und Trauernden von den Wänden geradezu verschluckt. Die Kostüme von Angelina Atlagic sind dagegen stimmig in ihrer zeitlosen Eleganz mit angedeuteten Renaissance-Ornamenten.

Solistisch wird die Aufführung dominiert von Polina Semionova in der weiblichen Titelrolle. Sie prägt den Abend mit einer mitreißenden Darstellung der Julia, ist in der Auftrittsszene jugendlich ausgelassen und übermütig, reift dann heran zu einer hingebungsvoll Liebenden, die in den Armen von Paris wie eine leblose Marionette hängt, sich in ihrer Verweigerung dieses Mannes zu furiosen Ausbrüchen steigert. Das letzte Bild in der Gruft lebt einzig von ihrer erschütternden Gestaltung der Julia, deren unfassbarem Schmerz und der übermenschlichen Verzweiflung beim Anblick des toten Romeo. Polina Semionova ist herangereift zu einer großen Charakterdarstellerin.

Neben ihr wirkt der Gasttänzer Ivan Zaytsev vom Mikhailovsky Theater St. Petersburg als jugendlicher Romeo ausgesprochen blass in der Ausstrahlung. Gegen seine tänzerische Leistung ist nichts einzuwenden, seine Sprünge sind kraftvoll und hoch, auffällig die katzenhafte Gewandtheit, mit der er sich Julia bei der ersten Begegnung nähert. Aber sein mimischer Ausdruck bleibt zu verhalten, zeigt keine Entwicklung. Da weiß Arshak Ghalumyan als sein Freund Mercutio mit starken Auftritten mehr zu überzeugen – zu Beginn vital und schalkhaft, später tragisch endend durch Tybalts heimtückischen Mord. Andere Choreografen haben diese Todesszene freilich packender zu gestalten gewusst. Mercutios Freund Benvolio gibt Nikolay Korypaev gleichfalls jugendliches Temperament.

Den Tybalt zeichnet Federico Spallitta als prägnanten Charakter – aggressiv, fies, gefährlich. Etwas aufgewertet in Duados Choreografie scheint der Paris von Olaf Kollmannsperger, der mit Julia einen ausgedehnten Tanz zu absolvieren hat. Auch deren Eltern sind mit Alexej Orlenco als herrischem Lord Capulet mit wilden Zornesausbrüchen und Aurora Dickie als eleganter Lady Capulet einprägsam geführt.

Paul Connelly gibt mit der Staatskapelle Berlin Prokofjews Musik in all ihrer Schärfe und Dramatik wieder, scheut dabei auch nicht harte Dissonanzen und lärmende Klangballungen. Das Premierenpublikum am 29. 4. 2018 nahm die Neuproduktion, Duatos letztes Abend füllendes Stück beim Staatsballett Berlin, mit großer Zustimmung auf.

Bern Hoppe 2.5.2018

Foto (c) Fernando Marcos / Staatsballett Berlin