45. Hamburger Ballett-Tage

Vorstellung am 30. 6. 2019

Emotionsreiches Tanzfinale

Gleich drei Tänzerabschiede gab es bei der diesjährigen Ballett-Gala in der Staatsoper, die traditionell die Saison beschließt und sich anhaltender Beliebtheit beim Publikum erfreut, wovon das ausverkaufte Haus zeugte. John Neumeier rief sie bereits ein Jahr nach seinem Amtsantritt als Intendant des Hamburg Ballett ins Leben und widmete sie dem legendären russischen Tänzer Vaslaw Nijinsky. In diesem Jahr stand sie unter dem Motto Song and Dance und wurde wie stets von Neumeier selbst charmant und informativ moderiert. Dass Philharmonische Staatsorchester Hamburg unter Simon Hewett zeigte sich einmal mehr souverän in der Beherrschung der unterschiedlichen musikalischen Genres und wurde nach fest sechs Stunden verdient in den enthusiastischen Beifall des Publikums einbezogen.

Ausschnitte aus dem Programm Bernstein Dances sorgten für einen schmissigen Auftakt, vokal idiomatisch unterstützt von der Sopranistin Dorothea Baumann und dem Bariton Benjamin Appl. Die Company, darunter die kraftvoll-sportiven Solisten Aleix Martinez und Alexandr Trusch, zeigte sich glänzend aufgelegt, ausgelassen und mit ansteckender Tanzfreude. Überraschend war hier der Auftritt der Ballettlegende Alessandra Ferri, in Hamburg ein gern gesehener Gast und mit ihrer Kreation der Titelheldin in Neumeiers Ballett Duse noch immer im Gespräch. Mit ihrer nächtlich-träumerischen Darbietung des Songs „ Lonely Town“ bot sie eine ganz neue Facette in ihrem Repertoire. Eine stilistisch perfekte Fortsetzung war der zweite Beitrag auf Musik von Gershwin, Shall We Dance?, in welchem Neumeier aus die legendäre „Broadway-Pawlowa“ Marilyn Miller in einem „Imaginären Portrait“ verewigen wollte. Die Gershwin-Songs wurden in der Klavierfassung gespielt (mit Oliver Kern am Flügel), nur der letzte Titel „The Man I Love“, erklang in einer Einspielung mit der unvergessenen Ella Fitzgerald. Sechs Tänzerinnen verkörperten verschiedene Charakter-Facetten des Vorbilds – kokett, frech, elegisch, kapriziös, mondän, verwundbar. Auch der traditionelle Auftritt des Bundesjugendballetts fügte sich bestens in diese Stimmung, denn Neumeiers Choreografie Simple Gifts nach Aaron-Copland-Songs (wieder mit Appl, der sich stimmlich hier ganz zuhause fühlte und mit klangvoll strömender Stimme begeisterte) bot den jungen Tänzern Gelegenheit, Temperament und Technik zu demonstrieren.

Ein Ausschnitt aus Neumeiers Anna Karenina brachte die Begegnung mit Felix Paquet vom National Ballet of Canada, der im Solo des Konstantin Lewin mit hinreißenden Sprüngen und Drehungen das Publikum begeisterte. Der charismatische Tänzer wird ab der kommenden Saison als Solist zum Hamburg Ballett wechseln und man darf gespannt sein auf seine tänzerische Entwicklung. Ein weiterer solistischer Beitrag gehörte zu den stärksten Momenten des ersten Programmteils – die Alt-Arie „Erbarme dich“ aus Neumeiers Matthäus-Passion, in der Dario Franconi mit geradezu übermenschlicher Expressivität überwältigte, die Musik mit Gesten der Erschütterung, des unfassbaren Schmerzes und Aufbegehrens umsetzte.

Mit dem melancholischen Abschied von zwei Ersten Solisten des Ensembles endete der erste Teil des Abends. Die Spanierin Carolina Agüero war als Prinzessin Natalia in Neumeiers Illusionen – wie Schwanensee noch einmal in ihrer bewegenden Darstellung dieser unglücklichen Figur zu erleben, in hochkarätiger Partnerschaft mit Alexandr Trusch als König und David Rodriguez als Der Mann im Schatten. Das Publikum verabschiedete die Tänzerin in Zuneigung und Dankbarkeit, wie auch im folgenden Beitrag Carsten Jung als Titelheld in Liliom, für den er 2012 mit dem Benois de la Danse ausgezeichnet worden war. Neumeier hatte die Figur für ihn kreiert, ebenso wie die Julie für Alina Cojocaru vom English National Ballet. Beide berührten noch einmal in der träumerischen Szene auf der Bank mit ihrer einzigartigen Aura und Sensibilität. Tränen- und blumenreich gestaltete sich danach die Verabschiedung des beliebten Tänzers mit einem schier unendlichen Defilee seiner Tänzerkollegen und der Ballettmeister, vom Publikum mit stürmischem und dankbarem Applaus begleitet.

Ganz Gustav Mahler war der zweite Schwerpunkt des Programms mit dem Titel „Um Mitternacht“ gewidmet. Die „Rückert-Lieder“ des Komponisten hat Neumeier zweimal choreografiert, hier war die 2. Fassung zu sehen. Appls Stimme klang diesmal im forte steif und dröhnend, wirkte in den lyrisch-getragenen Gesängen („Liebst du um Schönheit“ und „Ich bin der Welt abhanden gekommen“) überzeugender. Erste Solisten der Company, Edvin Revazov, Anna Laudere, Silvia Azzoni, Christopher Evans, sowie Jacopo Bellussi brachten den ernsten Charakter dieser Lieder mit ihrem Einsatz zu starker Wirkung.

Der letzte Programmteil war weniger dem Motto der Gala verpflichtet, bot dafür einen Ausblick auf die kommende Saison, in der Neumeiers Ein Sommernachtstraum wieder aufgenommen wird. Der gezeigte Hochzeitsmarsch mit Alexandr Trusch als Idealbesetzung des Philostrat gestaltete sich – nicht zuletzt wegen der traumhaften Kostüme von Jürgen Rose – als Fest für das Auge. Und im folgenden Grand Pas de Deux hatte Jacopo Bellussi die Chance, vor dem bevorstehenden Rollendebüt als Theseus bereits einen Vorgeschmack auf seine Deutung der Rolle zu geben. Sein Auftritt mit Hélène Bouchet als Hippolyta war von bestechender Eleganz, leichte Nervositäten waren sicher dem Debüt geschuldet. Bejubelt wurde die schon oft gezeigte, aber immer wieder gefeierte Choreografie von John Neumeier, „Opus 100 – For Maurice“, die er anlässlich des 70. Geburtstages von Maurice Béjart geschaffen hatte. Alexandre Riabko und Ivan Urban sorgten mit ihrem emotionsstarken Hohelied auf die Freundschaft für eine Sternstunde des Abends. Und dann der dritte Abschied, denn der Erste Solist Karen Azatyan, unvergleichlich als Gabriele D’Annunzio im Ballett Duse, hatte sich wegen einer Verletzung entschlossen, seine Tänzerkarriere zu beenden. Mit Alessandra Ferri bot er noch einmal die hoch erotische, von Brittens Musik aufgepeitschte Szene zwischen den beiden Protagonisten.

Stets wirken bei der Nijinsky-Gala auch Mitglieder der während der Ballett-Tage gastierenden Compagnien mit. Vom National Ballet of China traten Qui Yunting und Wu Sicong in einer Choreografie von Fei Bo auf buddhistische Gesänge von geheimnisvoll raunender und brummelnder Stimmung auf. Aus Neumeiers Lied von der Erde zeigten Cao Shuci und Sun Ruichen den Satz „Der Einsame im Herbst“ mit erstaunlichem Einfühlungsvermögen in den spezifischen Stil dieser Kreation. Vom Het Nationale Ballet kamen Jozef Varga und Giovanni Adriano Princic und stellten Wubkje Kuindersmas Choroegrafie Two and Only vor. Die Musik dazu stammt von Michael Benjamin, der sie selbst an der Gitarre interpretierte. Der sensible Männer-Pas-de-deux endet trotz aller Zugewandtheit der beiden Figuren mit einem irritierenden Abschied. Als prominente Vertreterin des National Ballet of Canada stellte sich Svetlana Lunkina vor, die im Adagietto aus Mahlers Fünfter Sinfonie gemeinsam mit Christopher Evans für einen berührendes Moment sorgte. Danach vereinte sich das gesamte Ensemble in weißen Trikots im „Rondo-Finale“ zu einem ausgelassenen Tanzwirbel, dem der nicht enden wollende Applaus des Publikums, der Konfettiregen und die Blumen-Reverenzen folgten.

Am Abend vor der Gala war Gelegenheit, jene Produktion zu erleben, mit der die Saison eröffnet wurde. Eigentlich war dafür Neumeiers Neuschöpfung Die Glasmenagerie nach Tennessee Williams geplant, die aber auf den Beginn der Spielzeit 2019/20 verschoben werden musste (Premiere: 1. 12. 2019). Dafür gab es das Programm Brahms/Balanchine, das die „Liebeslieder-Walzer“ von Johannes Brahms mit dessen Klavierquartett Nr. 1 in g-Moll op. 25, orchestriert von Arnold Schönberg, kombinierte. Die Bühne von Heinrich Tröger zeigt einen Ballsaal mit Lüster im klassizistischen Stil. Gemeinsam mit den rauschhaften Ballroben von Judanna Lynn stellt sich eine Atmosphäre von einzigartiger Eleganz, vergleichbar mit dem Fest

beim Fürsten Gremin in Tschaikowskys Eugen Onegin, ein. Das Gesangsquartett mit Marie-Sophie Pollak/Sopran, Sophie Harmsen/Alt, Sebastian Kohlhepp/Tenor und Benjamin Appl/Bariton sowie das Klavierduo mit Mariana Popova und Burkhard Kehring war auf exzellentem Niveau. Erste Kräfte der Company, wie Silvia Azzoni, Patricia Friza, Anna Laudere, Carsten Jung, Matias Oberlin, Edvin Revazov und Alexandre Riabko, sorgten mit bestechender Eleganz in Balanchines Formationen, Reihen, Duos und Trios für ein Fest der Galanterie.

Auf heller, nur mit einem drapierten Schleier dekorierter Bühne gestaltete sich das Brahms/Schönberg-Quartett mit seinen erlesenen Tableaus als eine Parade neoklassischer Ästhetik. Jeder der vier Sätze besaß ein eigenes choreografisches Gepräge, gipfelnd nach dem glanzvollen Andante-Divertissement mit Hélène Bouchet und Alexandr Trusch im finalen Rondo alla Zingarese. In ungarischen Folklore-Kostümen begeisterten Madoka Sugai und Karen Azatyan gemeinsam mit der Gruppe in einem vitalen, temperamentvollen tänzerischen Wirbel. Schönbergs Bearbeitung der Vorlage unter Einbeziehung des Triangel und Xylophons war hier am ohrenfälligsten. Das Philharmonische Staatsorchester Hamburg unter Markus Lehtinen wusste sie mit Schwung und Rasanz zu interpretieren.

Bernd Hoppe 5.7.2019