44. Hamburger Ballett-Tage

Uraufführung und Gala-Glanz

Traditionell werden die Ballett-Tage mit einer Neuproduktion eröffnet – zumeist vom Intendanten des Ensembles John Neumeier selbst. So auch in diesem Jahr, als sich der Choreograf mit einem Beethoven-Projekt betitelten Ballett dem großen deutschen Komponisten widmete. Das Stück ist dreiteilig und verwendet zu Beginn Fragmente des Komponisten, u. a. die „Eroica-Variationen“ – eine schlüssige Wahl, da am Ende des Abends die populäre Sinfonie selbst folgt. Aleix Martinez stellt Beethoven als jungen Mann mit beinahe infantilen Zügen dar, der in Konfrontation mit personifizierten Fantasien und Ängsten seiner Welt gezeigt wird. Anfangs scheint er mit dem Flügel, an dem Michail Bialk brillant spielt, geradezu verwachsen zu sein und immer wieder kehrt er zu dem Instrument zurück. Die Bewegungen des Tänzers sind oft marionettenhaft und von skurriler Wirkung, was die Figur auch als Zweifelnden, Suchenden, Verunsicherten zeichnet, dann wieder Atem beraubend artistisch. Der Katalane – zwischen Automat und Sprungteufel – hat hier seine bisher größte Rolle zu absolvieren und bewältigt sie grandios. Im „Geistertrio“ zeigt er mit Patricia Friza einen innigen Tanz voller Glücksgefühle, im Intermezzo, dem zweiten Teil des Balletts auf „Die Geschöpfe des Prometheus“, ist er auf der in magisches Blau getauchten Szene mit einer Gebirgslandschaft im Hintergrund (Ausstattung und Licht ebenfalls von Neumeier) ein Wirbelwind mit Pirouetten und grand jétés. Edvin Revazov und Anna Laudere als Apollo und Terpsichore sorgen für mythische Stimmung, während die Gruppe als Gesellschaft heiter-vitale Tänze zeigt. Höhepunkt der Neuschöpfung ist der letzte Teil mit der „Eroica“ auf einer nun expressionistischen anmutenden Bühne. Nach den kammerspielartigen Bildern des Beginns sieht man hier ein großes sinfonisches Ballett voller Tempo, Schwung und Vitalität. Es ist dies eine Stärke des Choreografen, die er in seinen Kreationen auf die Musik Mahlers mehrfach bewiesen hat. Die Marcia funebre des 2. Satzes fällt aus der lebensbejahenden Grundstimmung heraus mit viel Bodenarbeit, strenger Statuarik und Pietà-Assoziationen. Das Scherzo ist dann wieder von lebhaft-heiterer Stimmung, wozu die duftigen Kostüme in Frühlingsfarben korrespondieren. Punktgenau auf die Musik ist das Finale choreografiert und steigert sich zu einem Hymnus der Lebensfreude. Martinez hat einen letzten Auftritt, bewegt sich zunächst wie eine Marionette und fällt dann in den ausgelassenen Tanz der anderen ein. Das Philharmonische Staatsorchester Hamburg musiziert unter Simon Hewett mit geschärften Kontrasten und wird am Ende in den euphorischen Jubel des Publikums einbezogen (6. 7. 2018).

Marius Petipa und Leonard Bernstein war die diesjährige Nijinsky-Gala am 8. 7. 2018 gewidmet, die traditionell die Ballett-Tage abschließt und auch diesmal deren Höhepunkt markierte. Mit einem Ausschnitt aus Bernsteins On the Town in John Neumeiers tänzerischer Umsetzung sorgte Alexander Trusch für einen schwungvollen Auftritt voller Rhythmus und Verve, schmissig geleitet von Simon Hewett am Pult des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg. Dirigent und Orchester zeigten sich gewohnt souverän in der Bewältigung der unterschiedlichen Stile der Musikstücke. Wie stets oblag die Konzeption und Moderation dem Ballettintendanten, der die beiden Jubilare anlässlich ihrer Geburtstage eingehend würdigte. 200 Jahre wäre der bedeutende Choreograf Petipa in diesem Jahr alt geworden, dessen Ballette als das Fundament des klassischen Tanzes gelten. Die Ausschnitte mit seinen Schöpfungen stellten dann auch die gefeierten Höhepunkte des fast sechsstündigen Abends dar. Illustre internationale Gäste waren dafür eingeladen worden. Zunächst aber machten Mariia Khoreva, Daria Ionova, Anastasia Nuikina und Maria Bulanova mit einer veritablen Rarität aus seinem Oeuvre, dem Spätwerk Le Reveil de Flore, bekannt. In einem bezaubernden Pas de quatre entzückten die vier Absolventinnen der Waganowa Ballettakademie mit aristokratisch zelebrierten Ornamenten. Einen hochinteressanten Vergleich ermöglichte eine zweifache Interpretation des Grand Pas de deux aus Dornröschen, zunächst in einer Rekonstruktion von Alexei Ratmansky für das American Ballet Theatre 2015. Tiler Peck vom New York City Ballet und Herman Cornejo vom ABT demonstrierten mit hoheitsvoller Attitüde und charismatischer Aura einen Blick zurück in die Tanzgeschichte. Sogar das Tutu der Ballerina mutete altmodisch an, wie überhaupt der ganze Vortrag einen historischen Zauber atmete. Aber die brillanten Variationen der beiden Stars besaßen auch echten Gala-Glanz. In der bekannteren Version Nurejews brillierten Jillian Vanstone und Francesco Gabriele Frola vom National Ballet of Canada mit technischer Perfektion und stupenden Effekten. Das Paar aus New York war im letzten Teil des Abends mit Balanchines Tschaikowsky Pas de deux noch einmal zu erleben – ein Feuerwerk von Bravour, eine Demonstration von Eleganz und aristokratischer Noblesse. Für das Bolshoi Ballett hatte Pierre Lacotte 2000 Petipas La Fille de Pharao rekonstruiert. Im Grand Pas de deux zeigten Olga Smirnova und Artem Ovcharenko vom Bolshoi Ballett ihre tänzerische Klasse. Gemeinsam mit Semyon Chudin wusste die Starballerina in den exquisit und hoheitsvoll gebotenen „Diamonds“ aus Jewels auch den bestechenden solistischen Schlusspunkt zu setzen.

Eine ständige Gastsolistin beim Hamburg Ballett ist Alina Cojocaru vom English National Ballet. Im Rosen-Adagio aus Dornröschen bewies die seit Jahrzehnten in der ersten Reihe tanzende Ballerina ihre ungebrochene jugendliche Anmut und mirakulöse technische Beherrschung dieser gefürchteten Nummer. In Neumeiers Deutung dieses Balletts gab sie im Pas de deux „Auroras Erwachen“ gar ein Rollendebüt. Sie und ihr Partner Alexander Trusch, der als Prinz Desiré gleichfalls debütierte, bezauberten hier mit einem Tanzduo von reinster Poesie.

Genannt werden sollen auch zwei beliebte Paare der Compagnie. Im Pas de deux aus Schwanensee verströmten Anna Laudere und Edvin Revazov im Weißen Pas de deux inniges Gefühl und romantischen Zauber und in Neumeiers (Nurejew gewidmeten) Don Juan zeigten Silvia Azzoni und Alexandre Riabko in zwei Pas de deux und einer Variation Kunstvoll-Mythisches.

Die Musikwelt feiert in diesem Jahr Bernsteins 100. Geburtstag. Ihm galten große, vielleicht zu ausgedehnte Teile des Programms. Die Ausschnitte aus Songfest in Neumeiers Umsetzung (von Fredrika Brillembourg mit warmem Mezzo und Daniel Ochoa mit resonantem Bariton live gesungen) gefielen mit ihrem jazzigen Feeling und dem sportiven Männerduett mit Carsten Jung und Ivan Urban, aber es folgten noch mehrere Szenen aus Bernstein Dances und seine Serenade. Letztere nahm den gesamten zweiten Programmteil ein und ist in ihrer ernsten, nachdenklichen Stimmung vielleicht nicht unbedingt eine Gala-Nummer. Ganz anders der Auftritt des Bundesjugendballetts mit Johns Dream – And What We Call Growing Up in seiner spektakulären Artistik und einem Solisten von geradezu animalischer Sinnlichkeit: Ricardo Urbina Reyes. Nach dem fetzigen Finale aus Candide Jubel, Blumen, Konfettiregen und das Publikum im Rausch.

Bernd Hoppe 21.7.2018

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